Im Gastkommentar widmet sich Mark Leonard, Direktor des European Council on Foreign Relations, wie die Pandemie die Globalisierung verändert und was die Europäer tun müssen, um für die nächste Interdependenzkrise gewappnet zu sein.

Winston Churchill hat einmal gesagt, dass zu viele Menschen zwar "über die Wahrheit stolpern, aber sich berappeln und weitereilen, als wäre nichts passiert". Doch im Falle von Covid-19 hat es die Welt mit unbequemen Fakten zu tun, die sich unmöglich ignorieren lassen. Wie die Finanzkrise von 2008 und die Flüchtlingskrise von 2015 in Europa hat die Pandemie eine tiefe Anfälligkeit für systemische Bedrohungen deutlich gemacht.

Die letztliche Rolle des Staates – der Zweck von Souveränität schlechthin – ist es, den Bürgern einen angemessenen Schutz vor existenziellen Risiken zu bieten. Doch scheint die Globalisierung die Fähigkeit des modernen Staats untergraben zu haben, mit unwahrscheinlichen, aber wirkmächtigen Szenarien fertig zu werden. Genau wie die Terroranschläge vom 11. September 2001 in den USA die Menschen zu einem Umdenken in Sicherheitsfragen zwangen, zwingt die Covid-19-Krise uns zu einem frischen Blick auf die Art und Weise, wie wir mit Interdependenzen umgehen.

Als Erstes: Grenzen schließen

Es ist verführerisch, zu fragen, ob sich diese Krise durch Nationalismus oder internationale Koordination lösen lässt. Doch ist dies die falsche Frage: Tatsächlich geht es darum, ob Interdependenz mit der fortgesetzten Existenz der Nationalstaaten vereinbar ist und diese ergänzen kann. Im heutigen politischen Umfeld ist es schlicht zu wenig, über die Notwendigkeit zur Aufrechterhaltung offener Märkte und Grenzen zu dozieren. Sobald das Coronavirus als globale Bedrohung erkannt wurde, schlossen die meisten nationalen Regierungen instinktiv als Erstes ihre Grenzen – erst danach gab es Forderungen nach internationaler Koordination durch die G20.

Ein erster Problemlösungsreflex: Grenzen schließen.
Foto: AFP / Valery Hache

Und doch: Obwohl die ursprüngliche Verbreitung des Virus stark interdependenzbedingt war, lässt die Gesundheitskrise, die es innerhalb der einzelnen Länder ausgelöst hat, nationalistische oder autarke Lösungen nicht zu. Sobald Covid-19 erst einmal innerhalb der Bevölkerung übertragen wird, bringt die Schließung der Grenzen nichts. In der durch die Krankheit hervorgebrachten Welt hat Jean-Paul Sartre absolut recht: "Die Hölle, das sind die Anderen."

Neue Chancen, neuer Druck

Zudem hat die Covid-19-Pandemie eine Weltordnung getroffen, die sich bereits im Krisenzustand befand. Mindestens seit 2008 ist offensichtlich, dass – anders als lange behauptet – nicht jeder von der Globalisierung profitiert. Eine offenere und stärker vernetzte Welt fördert ein starkes Wirtschaftswachstum und Wohlstand, aber auch Ungleichheit und Umweltzerstörung. Die erhöhte Freizügigkeit der Menschen hat Millionen neue Chancen eröffnet, aber auch den Aufwärtsdruck auf öffentliche Dienstleistungen und den Abwärtsdruck auf die Löhne in den Gastgeberländern erhöht und zugleich einen Braindrain aus den abgehängten Gebieten angeheizt.

Lange vor der Pandemie hatten diese Trends insbesondere in den entwickelten Ländern eine Gegenreaktion ausgelöst. Dabei eroberten populistische Parteien und Politiker die politische Agenda von den Parteien der Mitte, die die liberale Weltordnung der Nachkriegszeit verteidigten. Am dramatischsten ist der Fall der USA, die sich unter Präsident Donald Trump vom Führer der internationalen Ordnung zu ihrem Zerstörer gewandelt haben und das damit begründen, dass Verbündeter und Rivalen der USA wie etwa China Amerika zum eigenen Vorteil ausgenutzt hätten.

Vision "europäischer Souveränität"

Vor diesem Hintergrund ist es unvermeidlich, dass die aktuelle Krise die Globalisierung auf die eine oder andere Art umgestalten wird. Aber wie?

Die Europäer sollten diesen Anlass nutzen, um ihre Vorstellung von Souveränität zu überdenken. Die Herausforderung besteht darin, herauszufinden, wie sich die europäische Integration selbst als Stützpfeiler nationaler Souveränität nutzen ließe, statt eine diesbezügliche Bedrohung darzustellen. Wie diese und andere Krisen der jüngsten Zeit zeigen, muss es den europäischen Regierungen gestattet sein, ihre Bürger vor interdependenzbedingten Bedrohungen zu schützen, egal, ob es sich dabei um Umwelt-, Cyber-, Krankheits-, Migrations- oder Finanzbedrohungen handelt.

Zu diesem Zweck muss die europäische Politik eine Vision "europäischer Souveränität" entwickeln, die das Bedürfnis nach Autarkie abmildert, indem sie Kanäle für die nationalen Regierungen schafft, um bestimmte grundlegende Entscheidungen selbstständig zu treffen und innerhalb des breiteren Interdependenzrahmens effektiver zu verhandeln. Insbesondere muss eine derartige Vision die Kluft zwischen den "offenen" und "geschlossenen" Lagern in drei Bereichen überwinden.

Autarkie und Autokratie

Erstens kann die EU in der Debatte zwischen Autarkie und effizienteren, stärker diversifizierten Lieferketten einen Mittelweg bahnen. Es ist für kleine Mitgliedsstaaten unrealistisch, zur Autarkie zurückzukehren, aber es sollte für die EU möglich sein, wichtige Ressourcen zu produzieren und zu lagern. Dies reicht von Beatmungsgeräten und Nahrungsmittelvorräten bis hin zu 5G-Netzen und zur Energieversorgung. Anschließend sollte sie die Verfügbarkeit dieser Ressourcen innerhalb des Binnenmarktes sicherstellen. Dies würde kleinere Länder schützen, die in der Weltwirtschaft des 21. Jahrhunderts anfälliger für die Drangsalierung durch andere sind.

Zweitens muss Europa im Kampf zwischen Autokratie und Demokratie zeigen, wie demokratische Prinzipien in Notfällen bewahrt werden können. Eine vielversprechende Möglichkeit besteht hier darin, einen Rechtsrahmen zu schaffen, um sicherzustellen, dass zum Covid-19-Tracking und für andere Zwecke erhobene Daten nicht dauerhaft gespeichert werden. Die Politiker der EU sollten zudem über neue, einvernehmlich vereinbarte Standards für den Einsatz und die Dauer von durch Mitgliedsstaaten eingeführten Notstandsbefugnissen nachdenken.

Idee der Grenzausgleichsabgabe

Drittens kann Europa bei der Bewältigung der Kluft zwischen nationaler Souveränität und Multilateralismus einen Ansatz verfolgen, der beide Impulse befriedigt, und zugleich einen Kurs abstecken, der zu einem anderen Ziel führt als die von Trump, dem chinesischen Präsidenten Xi Jinping und dem russischen Präsidenten Wladimir Putin verfolgte Strategie. Indem sie auf gleichgesinnte Länder zugeht, kann die EU die internationale Ordnung in einer Weise formen, die ihre eigenen zentralen Werte und Interessen widerspiegelt.

Zum Beispiel könnte die EU in der Frage des Klimawandels eine Grenzausgleichsabgabe einführen, um ihre vielen Handelspartner zu zwingen, ihre Kohlenstoffkosten selbst zu tragen. In der Frage der Migration kann sie enger mit Drittländern zusammenarbeiten, um die Bewegungen der Menschen zu steuern. Und in der Frage der globalen Gesundheit kann sie Entwicklungshilfe und andere Instrumente nutzen, um anfälligen Ländern zu helfen, ihre Gesundheitssysteme zu stärken, und so die Wahrscheinlichkeit – oder zumindest die Auswirkungen – künftiger Pandemien verringern.

Rückkehr zu den Wurzeln

Letztlich könnte die Covid-19-Krise dem europäischen Projekt eine Rückkehr zu seinen Wurzeln ermöglichen – der Versöhnung der Vorrechte des Nationalstaates mit den Realitäten der Interdependenz –, statt die nationale Souveränität auf dem Altar des neoliberalen Dogmas zu opfern. Noch besser: Die Entwicklung einer in sich schlüssigen Vision europäischer Souveränität würde zur Vorbereitung auf die nächste Interdependenzkrise beitragen. Wird die europäische Politik Churchills Test bestehen und sich mit der Wahrheit auseinandersetzen, die Covid-19 ihnen in den Weg gelegt hat, oder wird sie sich berappeln und weitermachen wie gewöhnlich? (Mark Leonard, Übersetzung: Jan Doolan, Copyright: Project Syndicate, 9.5.2020)