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So leer wie im Zentrum von Paris muss es nicht überall bleiben.

Foto: Reuters / Francois Mori

Man muss von einem Tabubruch sprechen, gar von einer französischen Revolution. Ausgeheckt hat sie ein Ökonom namens Bary Pradelski. Der junge Forscher aus Grenoble hatte eine Eingebung, als er sich mit einem befreundeten Mathematiker treffen wollte. Im Telefongespräch hielten sich beide für coronafrei und damit für so etwas wie grüne Oasen im rot blinkenden Land. Um sich zu sehen, müssten sie nur einen sicheren Weg – eine Art grüne Brücke – durch das verseuchte Paris wählen, fanden sie.

Damit war die Idee geboren, die nun ganz Frankreich einführt. Ab Montag wird das Staatsgebiet in zwei Zonen eingeteilt. Im roten Bereich von Paris bis an den Ärmelkanal und bis an den Rhein – in etwa das Landesviertel oben rechts – bleiben die seit März gültigen Einschränkungen zum Teil in Kraft; im grünen Landeswesten und -süden wird die Lockerung hingegen weitergetrieben: Dort öffnen Parks, Mittelschulen (collèges) und andere Einrichtungen wieder, und wenn die Zone drei Wochen lang im grünen Bereich bleibt, können auch die Cafés und Restaurants wieder den Betrieb aufnehmen.

Teilung statt Egalité

Die Teilung in zwei Zonen ist ein mentales Novum für die jakobinisch-zentralistische Republik, die nicht nur auf die Freiheit und Brüderlichkeit setzt, sondern auch auf die Egalité, die sakrosankte Gleichheit. Premierminister Edouard Philippe betonte deshalb am Donnerstag, es gebe weiterhin nur "ein Frankreich". Auch suchte er die französischen Urängste vor einem Auseinanderfallen des streitbaren Landes zu beschwichtigen. Für einmal war das vielleicht gar nicht nötig: Die Franzosen verstehen den Sinn der Grenzziehung mitten durch das flächenmäßig größte Land Europas.

Im Hinterland der Côte d'Azur herrscht nun einmal nicht die gleiche Bedrohungslage wie tausend Kilometer im Landesnorden, hauptsächlich im Großraum Paris, wo schon 7.000 Corona-Tote zu beklagen sind.

Außerdem lässt sich die von Pradelski ausgetüftelte Einzonung flexibel handhaben: Verschlimmert sich die Lage in einem grünen Departement, rutscht es automatisch in die rote Zone; öffentliche Dienste schließen wieder, die Bürger müssen Masken aufsetzen. Zur Unterscheidung hat die Regierung drei objektive Kriterien bestimmt: die Zahl der wöchentlichen Ansteckungen, der belegten Notfallbetten und der verfügbaren Schnelltests.

An die grüne Côte d'Azur

Ziel der elastischen Grenzziehung ist es natürlich, die "gesunden" Zonen nicht zu benachteiligen oder wirtschaftlich nach unten zu ziehen. Wie Pradelski im April in einer viel beachteten Zuschrift in der Zeitung "Le Monde" festhielt, sollen insbesondere Werks- und Industriegebiete zu grünen Großzonen fusionieren können.

Auch der lahmgelegte, für Frankreich so wichtige Tourismus dürfte davon profitieren: Mit einem Umweg könnte etwa eine niederländische Familie – wenn denn in den Niederlanden die Zahl der Fälle zurückgeht – durch das grüne Gebiet bis an den Atlantik gelangen. Dort sind die Strände seit Wochen geschlossen; ab Montag sollen sie aber laut Premier Philippe wieder "von Fall zu Fall" für Badefreunde und Spaziergänger freigegeben werden.

Pradelski denkt aber auch an "grüne" Inseln wie etwa in Spanien oder Griechenland, die von einem nordeuropäischen, in einer Grünzone befindlichen Flughafen aus erreichbar wären. Wie Frankreich vormacht, passt das System nicht nur auf föderalistische Staaten – auf sie aber vielleicht noch besser. In Deutschland würde der Forscher laut seinen Angaben allerdings nicht die Bundesländer zum Maßstab nehmen, sondern die kleineren Landkreise. Für sie, aber auch für österreichische Bundesländer, könnte die Einzonung Modellcharakter haben.

Zuckerbrot und Peitsche

Gelingen kann das rot-grüne Unternehmen nur, wenn die Grenzen dazwischen eingehalten werden. Und da dringt das Obrigkeitsdenken des französischen Zentralstaats doch wieder durch: Premier Philippe spricht nur am Rand von der Notwendigkeit zu mehr Eigenverantwortung; vor allem hat er klargemacht, dass er die heutigen Bußen von 135 Euro noch ausdehnen wolle.

Das gilt innerhalb der "roten" Agglomeration von Paris, wo auch Bahn- und Metroangestellte die neue Maskenpflicht im öffentlichen Verkehr zu überwachen und notfalls zu ahnden haben. Im Visier sind aber auch die Außengrenzen der grünen und roten Zonen: Auf die Landstraßen dazwischen werde die Polizei ein besonderes Augenmerk richten, wie Innenminister Christophe Castaner erklärte.

Überlegungen für Österreich

Ab nächster Woche will er speziell vor Touristenorten wie Saint-Tropez, Deauville oder Biarritz Straßenkontrollen einrichten lassen. Die Einteilung in grüne oder rote Zonen ist indessen Teil eines breit gefächerten Plans, mit dem die Ausgangssperre am Montag in ganz Frankreich gelockert wird. Die im Alltag wichtigste Neuerung: In einem Umkreis von hundert Kilometern rund um die eigene Wohnadresse können sich die Franzosen neu frei und ohne jeden Passierschein bewegen. Und was, wenn sie innerhalb dieses Radius von einer grünen in eine rote Zone gelangen? Die Antwort findet sich nicht im Rot-Grün-Konzept, sondern wohl eher in der Laune des Gendarmen.

Hierzulande hat vor allem der Public-Health-Experte Martin Sprenger ähnliche Überlegungen öffentlich formuliert. Er hat den Expertenbeirat im Gesundheitsministerium Ende April verlassen und spricht daher in seinem eigenen Namen. Er schrieb in einem Briefaustausch mit Addendum Ende April und Anfang Mai über die Möglichkeiten regional unterschiedlicher Risikoeinschätzungen und unterschiedlicher Regeln. Ein für Österreich denkbares System hat allerdings drei Stufen – nicht nur Grün und Rot, sondern auch einen Mittelweg, Gelb. Eine Corona-Ampel, die das visualisieren würde, gibt es schon. Sie ist auf der Webseite des Complexity Science Hub abrufbar. (Stefan Brändle aus Paris, 9.5.2020)