Ob in Cannes dieses Jahr noch der rote Teppich gebraucht wird, ist fraglich: Die Filmwelt sucht nach Alternativen.
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Gut möglich, dass Wes Andersons Komödie The French Dispatch, ein Heldenlied auf das Magazin New Yorker, in der auch Christoph Waltz sein Debüt bei dem US-Eigenbrötler geben wird, am Anfang gestanden wäre. Am kommenden Dienstag hätte das 73. Filmfestival von Cannes eröffnet werden sollen, Direktor Thierry Frémaux hat seine Reaktion auf die Pandemie lange hinausgezögert. Schließlich wollte er auf Ende Juni verschieben, jetzt ist das Festival immer noch nicht abgesagt, aber niemand weiß so genau, ob es dieses Jahr noch stattfinden wird. Eine virtuelle Variante schloss Frémaux aus.

Das ist im Jahr nach dem Riesenerfolg von Bong Joon-ho mit seiner Klassenkampf-Groteske Parasite besonders bitter, denn das Interesse am Autorenkino ist am Markt so groß wie schon lange nicht. Cannes-Kandidaten wie Leos Carax’ Annette mit Adam Driver oder ein mit Tilda Swinton besetzter Film vom Thailänder Apichatpong Weerasethakul hätten davon profitieren können, Regisseurinnen wie Ana Lily Amirpour oder Mia Hansen-Love – oder Benedetta, ein Nonnendrama vom Regie-Provokateur Paul Verhoeven (Elle).

Was geschieht nun mit all diesen Filmen, die vorerst ohne Weltpremiere in eine ungewisse Zukunft schauen? "Wenn Cannes als Fixpunkt fehlt, bedeutet das, dass viele Starts auf unbestimmte Zeit verschoben sind", sagt Michael Weber im STANDARD-Gespräch. Weber leitet die in Köln stationierte The Match Factory, einen der wichtigsten Weltvertriebe im Arthouse-Kino. Er hat Filme von so renommierten Filmschaffenden wie Michael Haneke, Aki Kaurismäki, Christian Petzold oder der Italienerin Alice Rohrwacher international lanciert und in viele Länder verkauft. Für Cannes hätte er das Ensembledrama La nostra strada vom italienischen Starregisseur Nanni Moretti fertig gehabt – und den schon erwähnten Weerasethakul.

Neue Strategien gesucht

Wo diese Filme nun landen, ist schwer vorauszusehen, da auch wichtige Herbstfestivals wie Venedig und Toronto durch die Covid-19-Krise gefährdet sind. Die Planung sei immens schwierig, so Weber, und auch für die Filmemacher eine Riesenbelastung. "Man muss sich für jeden dieser Filme eine eigene Strategie ausdenken. Zugleich hängt viel davon ab, was die Politik entscheidet. Und nicht zuletzt, wie das Publikum agiert, wenn die Kinos wieder aufmachen."

"Ich glaube, es ist an der Zeit, neue Strategien auszuprobieren und zu überlegen, wie man an ein Publikum herankommt. Und wie man für manche Filme wieder ein größeres Publikum findet", findet Match Factory-Chef Michael Weber.
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Alles auf 2021 zu verschieben sei jedenfalls keine Option. Dafür sind die wirtschaftlichen Folgen zu groß, nicht nur den Produzenten würden wichtige Zuflüsse fehlen. Bei einigen Titeln gibt es schon Vorverkäufe in diverse Länder, da sei der Kinostart dann möglicherweise auch unabwendbar, so Weber. Der Kinoherbst wird jedenfalls ein dichtgedrängtes Treiben, viele Starts der letzten Monate werden nachgeholt. Ein Stau ist unvermeidbar: "Wir müssen davon ausgehen, dass es nur limitierte Starts geben wird und dass die Kinokapazitäten eingeschränkt sein werden."

Und auch zum Publikumsverhalten gibt es, so die Kinos im Spätsommer wieder öffnen, vielfältige Theorien. Manche meinen sogar, dass das eigentliche Geschäft erst mit dem neuen Bond, No Time To Die, im November wieder in Fluss kommt. "Er hat erst den Must-see-Faktor." Weber rechnet damit, dass insgesamt wenig Neugierde auf Neues herrscht: "Man wird wohl lieber auf Nummer sicher gehen."

Jung und hip – und trotzdem Kassenerfolg

Was hält ein Weltvertrieb wie Match Factory von Video-on-Demand-Starts, wie sie nun während der Corona-Krise häufiger werden? Weber glaubt nicht daran, dass der Einfluss des Vertriebs auf diese Entwicklung allzu groß ist – beim Streit um World Trolls Tour, den Universal an der US-Kinokette AMC vorbei online verwertet hat, sehe man, dass am Ende die Studios entscheiden. Die Wandlung bei den Verwertungsfenstern ist ohnehin im Gange, auch gleichzeitige Kino- und VoD-Starts nehmen zu.

Daraus muss man aber noch lange keinen Abgesang auf das Kino ableiten, wie er gerade wieder en vogue zu sein scheint. Für Weber liegt in der Vervielfachung der Verwertungswege auch die Chance, den Markt zu korrigieren. "Wir haben nicht erst seit Corona Probleme in der Branche." Online-Starts können in Zukunft ein probates Mittel sein, um die Überfüllung am Kinomarkt auszugleichen. "Ich glaube, es ist an der Zeit, neue Strategien auszuprobieren und zu überlegen, wie man an ein Publikum herankommt. Und wie man für manche Filme wieder ein größeres Publikum findet."

US-Vertriebe wie A24 oder Neon, der Parasite in den USA zum Kassenerfolg machte, zeigen vor, wie man Kino auch jung und hip vermarkten kann. Die Zukunft sieht mithin nach einer smarten Verschränkung von digitaler und klassischer Auswertung aus – jetzt muss sie nur noch beginnen. (Dominik Kamalzadeh, 9.5.2020)