Julian Baumgartlinger: "Ich hätte Anfang März nie gedacht, dass die EM ausfällt. Auf einmal war alles abgesagt. Sogar das Leben."

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Julian Baumgartlinger freut sich auf den Re-Start der deutschen Fußballbundesliga. Am 18. Mai gastiert der Kapitän der österreichischen Nationalmannschaft mit Bayer Leverkusen bei Werder Bremen. Im leeren Weser-Stadion. Davor sind Quarantäne und Corona-Tests angesagt. Die vergangenen Wochen hat er vornehmlich im Reihenhaus in Düsseldorf verbracht. "Meine zwei kleinen Töchter und ich haben die gemeinsame Zeit genossen." Trainiert wurde zunächst nur eine Stunde pro Tag in Kleingruppen.

STANDARD: Unter normalen Umständen könnten wir das Gespräch so beginnen: In fünf Wochen startet die Fußball-EM. Was erwarten Sie? Kann Österreich überraschen? Wie läuft die Vorbereitung?

Baumgartlinger: Das wäre mir weitaus lieber gewesen. Es ist, wie es ist, da hat sich einiges getan in der Zwischenzeit. Wir müssen halt in einem Jahr darüber reden.

STANDARD: ln Zeiten von Corona fangen wir so an: In Deutschland gestattet die Regierung nun doch Geisterspiele, die Diskussionen waren hitzig. Macht es für Sie Sinn, in leeren Stadien unter Laborbedingungen zu kicken, dreimal pro Woche getestet, in Quarantäne geschickt zu werden? Ist das nicht ein Tanz auf dem Vulkan?

Baumgartlinger: Es ist die Realität. Dass die Vereine in der ersten und zweiten Liga am Leben bleiben, rechtfertigt die Art und Weise, wie wir das durchziehen. Wir können und müssen die Saison zu Ende spielen, einen Abschluss finden. Es ist nie schön ohne Fans, sie sind beim Fußball das Salz in der Suppe. Aber wir akzeptieren es und sind froh, unseren Beruf überhaupt ausüben zu dürfen.

STANDARD: Es gab Kritik. Während Kinder nicht auf Spielplätze oder in die Schule dürfen, richten es sich die Herren Fußball-Millionäre, hieß es. Nachvollziehbar?

Baumgartlinger: Es ist in negativer Weise bemerkenswert, wie schnell die Solidarität, der Zusammenhalt, die Hilfsbereitschaft, das gemeinsame Durchhalten in die alten Muster des gegenseitigen Neidens umschlagen. Warum der und ich nicht? Ich freue mich für jeden Einzelnen, der wieder arbeiten darf, sein Geschäft aufsperren kann. Natürlich sind unsere Kinder, die Bildung das Allerwichtigste. Das sollte mindestens genauso schnell geklärt werden wie der Fußball. Die Liga hat Maßnahmen getroffen, damit es weitergeht. Das finde ich legitim, das ist keine Bevorzugung.

STANDARD: lst es nicht erstaunlich, dass das riesige Kartenhaus Fußball binnen zwei Monaten knapp vor dem Einsturz steht?

Baumgartlinger: Da müssten wir aber die Welt, die ganze Gesellschaft ändern. Denn diese Situation konnte keiner kommen sehen, dieser Lockdown war nicht vorhersehbar. Es ist nicht fair, zu sagen, dass man Fehler gemacht hat, weil falsch kalkuliert wurde. Man braucht in Zukunft mehr Sicherheitsnetze, muss nachhaltiger planen.

STANDARD: Bedeutet Corona das Ende der Globalisierung, oder ist das nur eine Unterbrechung?

Baumgartlinger: Schwer zu sagen, es kann natürlich ein gewisser Stillstand entstehen. In den vergangenen Jahren haben wir in der EU und in der Welt gesehen, dass die Abgrenzung deutlich zu nimmt. Siehe Brexit oder die Flüchtlingsthematik. Da hat jeder sein eigenes Süppchen gekocht. Auch in der Corona-Pandemie haben wir keine europäische Lösung gefunden, was natürlich schwierig war. Jedes Land hat sein ganz eigenes Gesundheitssystem, seine eigene Kultur. Es wäre schöner, die Idee Europa auch in Krisenzeiten mit mehr Leben zu erfüllen.

STANDARD: Zurück zum Fußball. Viele Topspieler, natürlich nicht alle, geben ein schlechtes Bild ab. Sie protzen in sozialen Medien mit ihrem Reichtum, lassen Friseure einfliegen, essen vergoldete Steaks. Sollte man nicht etwas dezenter und geerdeter sein?

Baumgartlinger: Die Vorbildfunktion ist nichts Neues für uns. Aufgrund des hohen Interesses stehen wir im Fokus. Der Fußball hat nicht nur in Deutschland enorme Strahlkraft, er fasziniert und polarisiert zugleich. Viele Spieler entsprechen eben dem Zeitgeist der gesamten Gesellschaft. Da ist es normal geworden, sein Hab und Gut in den sozialen Medien zu präsentieren und seine Privatsphäre preiszugeben. Der Beruf Influencer ist nicht umsonst in den letzten Jahren salonfähig geworden. Vielleicht waren die ersten Influencer sogar Fußballer. Davon kann man halten, was man will, es ist aber ein allgemeines Phänomen. Fußballer erreichen den Höhepunkt ihres Verdienstes zwischen 20 und 30 Jahren. Dass da noch Lebenserfahrung fehlt und noch nicht jeder Post sitzt, ist die logische Konsequenz. Aber es soll jedem überlassen sein, wie er sich nach außen präsentiert. Und den einen oder anderen Paradiesvogel brauchen wir doch auch.

STANDARD: Wie erging es Ihnen in den vergangenen Wochen persönlich? Hatten Sie Angst? Fühlten Sie sich im falschen Film?

Baumgartlinger: Ich hatte keine Angst, habe aber alles kritisch hinterfragt. Die Entwicklungen waren rasant. Ich hätte Anfang März nie gedacht, dass die EM ausfällt. Auf einmal war alles abgesagt. Sogar das Leben. Ich musste mich orientieren, weiß bis heute nicht, was richtig und was falsch ist, wie sich alles entwickeln wird. Ich bin optimistisch, dass die Lage langsam unter Kontrolle ist. Meine Generation ist die freieste, die es je gegeben hat. Vom ersten Tag unseres Lebens an konnten wir in Wahrheit tun und lassen, was wir wollen. Wir haben in unseren Grundrechten alle Freiheiten. Auf einmal waren diese eingeschränkt und sind es bis zum heutigen Tag.

STANDARD: Wird die Menschheit nach der Epidemie klüger, solidarischer sein?

Baumgartlinger: Ich kann es nur hoffen, plädiere dafür, werde es selber versuchen. Um alles in Schwung zu bringen, sollten wir uns gegenseitig unterstützen. Nichts neiden, nicht denunzieren, uns nicht am Unglück anderer aufbauen. Wir haben die Chance, aus dem Neustart etwas zu lernen.

STANDARD: Wird es 2020 noch Länderspiele geben? Oder zählen vorerst nur mehr die nationalen Ligen. Ist es eine Rückkehr zum Ur-Fußball, quasi ins Biedermeier?

Baumgartlinger: Zumindest ist es Fußball mit weniger Zuschauern. Die Nationalteams hat es immer gegeben, und somit wird es auch im Herbst wieder weitergehen. Das wird zwar eng und knackig, aber es ist machbar. Unser tägliches Brot verdienen wir bei den Klubs. Da habe ich mit Bayer Leverkusen großes Glück, der Verein steht wirtschaftlich gefestigt da.

STANDARD: Fußball und Kultur wecken im Normalfall Emotionen, dienen der Unterhaltung. Wird die Sehnsucht danach durch Corona sogar verstärkt?

Baumgartlinger: Das ist sehr wahrscheinlich. Wenn sich alles tatsächlich normalisiert, wird ein starker Drang vorhanden sein, Menschen zu treffen, auszugehen, Konzerte zu erleben, Feste zu feiern. Wir Menschen sehnen uns nach diesen gemeinsamen Emotionen.

STANDARD: Wird sich bei den aberwitzigen Transfersummen etwas ändern? Kosten Spieler statt 80 Millionen nur mehr 40?

Baumgartlinger: Für den Moment, für diesen Sommer, ist das gut möglich. Die Vereine werden sich sammeln, abwarten und taktieren. Läuft das Geschäft wieder an, fließen Fernsehgelder, wird das finanzielle Volumen von davor erreicht werden. Ich kann mir eine dauerhafte Rezession nicht vorstellen.

STANDARD: Finden Sie das traurig oder gut?

Baumgartlinger: Weder noch. Natürlich bin ich Teil des Geschäfts. Floriert meine Branche, geht es mir auch gut. Angebot und Nachfrage werden bleiben.

STANDARD: Sie sind 32 Jahre alt, stehen im letzten Drittel Ihrer Karriere. Was möchten Sie auf dem Fußballplatz noch erleben?

Baumgartlinger: Normalität, Emotionen. Mit Leverkusen könnten wir heuer noch einiges erreichen. Auf die EM im nächsten Jahr, meine zweite, freue ich mich extrem. Ich möchte beweisen, aus den Erfahrungen der ersten Teilnahme gelernt zu haben. Solange mich meine Beine tragen, werde ich spielen. Weil mir Fußball viel zu viel Spaß macht.

STANDARD: Hassen Sie Corona?

Baumgartlinger: Nein, dafür kann ich es zu wenig einschätzen. Außerdem machen Hass und Angst blind und dumm, sind schlechte Ratgeber. Corona betrifft jeden, es macht uns gleich, ist gnadenlos gerecht. (Christian Hackl, 10.5.2020)