Das deutsche Bundesverfassungsgericht beanstandet in einem Urteil nicht nur ein Hilfsprogramm der EZB, es stellt sich auch gegen einen Spruch des Europäischen Gerichtshofs.

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Im Gastkommentar vertritt der Innsbrucker Europa- und Völkerrechtler Werner Schroeder die Ansicht, dass der jüngste Karlsruher Beschluss nicht nur ein Affront sei, sondern auch erhebliche Folgen für die Akzeptanz des EU-Rechts habe.

Am Dienstag hat das deutsche Bundesverfassungsgericht (BVerfG) in Karlsruhe und damit erstmals ein Verfassungsgericht eines EU-Mitgliedstaats einen Beschluss der Europäischen Zentralbank (EZB) beanstandet. Im Mittelpunkt stand dabei das zur Bekämpfung der Eurokrise aufgelegte Public Sector Purchase Programme (PSPP), mit dem die EZB zwischen 2014 und 2018 Staatsanleihen angekauft hatte, um die Inflationsrate im Euroraum an zwei Prozent anzunähern. Die Karlsruher Höchstrichter haben mit dem Urteil zu dieser währungspolitischen Maßnahme gleichzeitig dem Europäischen Gerichtshof (EuGH), der für die Rechtsaufsicht über die EZB zuständig ist, die Gefolgschaft verweigert. Die Folgen für die europäische Rechtsgemeinschaft könnten dramatisch sein.

Eine Gruppe Euroskeptiker hatte mit einer Beschwerde vor dem BVerfG das Recht der EZB zum Ankauf von Staatsanleihen bestritten und behauptet, die Zentralbank verletze mit dem PSPP nicht nur die EU-Verträge, sondern zugleich auch die deutsche Verfassung. Das Verfassungsgericht hat ihrer Beschwerde nun teilweise stattgegeben. Die Zentralbank, so erklärte das Gericht, habe die wirtschaftspolitischen Auswirkungen ihres Programms PSPP unzureichend begründet.

Muss eine Zentralbank aber wirklich erklären, warum sie welche Staatsanleihen kauft und warum dies aus wirtschaftspolitischer Sicht vertretbar ist? Hätte das Bundesverfassungsgericht eine solche Forderung auch gegenüber einem Anleihekaufprogramm der Bundesbank erhoben? Wohl kaum. Zentralbanken sind unabhängige Verfassungsorgane, die währungspolitische Entscheidungen mit Prognosecharakter treffen, deren Effekte nur eingeschränkt vorhersehbar sind.

Aus gutem Grund unabhängig

Selbst Ökonomen konnten nicht vorher mit Sicherheit einschätzen, welche Auswirkungen das PSPP auf die wirtschaftliche Situation in den Mitgliedstaaten letztlich haben würde. Die EZB ist aus gutem Grund unabhängig – was übrigens auf eine deutsche Forderung bei der Aushandlung des Vertrages von Maastricht zurückgeht. Sie soll ihr Ziel, die Preisstabilität zu gewährleisten, auch gegen den Willen der Politik verfolgen können. Zu welchen Verwerfungen es führen kann, wenn in diese Gewaltenteilung eingegriffen wird, sieht man in den USA, wo ein populistischer Präsident die Federal Reserve Bank dazu nötigen will, die Zinsen zu senken, um seine Wirtschaftspolitik zu unterstützen, obwohl dies aus Gründen der Preisstabilität nicht opportun ist.

Letztlich sind die Folgen des Karlsruher Urteils für die Geldpolitik der EZB überschaubar, weil sie die gewünschte Begründung liefern kann und wird.

Bedenklich ist aber, dass die deutschen Richter bereit sind, für einen kurzfristigen Punktgewinn gegenüber der EZB das europäische Gerichtssystem nachhaltig zu beschädigen, denn die von der EZB für ihr Ankaufsprogramm gegebene Begründung hat der EuGH 2018 bereits akzeptiert. Damit wird die eigentliche Zielrichtung der Attacke aus Karlsruhe sichtbar. Das BVerfG maßt sich an, die Rechtmäßigkeit des EZB-Programms besser zu beurteilen als der Europäische Gerichtshof, und macht ihm dabei den härtesten Vorwurf, den man gegen ein Gericht überhaupt erheben kann.

Zähes Match

Dessen Feststellungen zu den Auswirkungen des Programms PSPP, so die deutschen Richter, seien "methodisch nicht mehr nachvollziehbar" und "objektiv willkürlich". Sie sind daher rechtlich für deutsche Staatsorgane nicht bindend. Eine solche krasse Form der Kritik hat außer dem deutschen Verfassungsgericht übrigens keiner der Experten erhoben, die sich mit der Materie befasst haben.

Verständlich wird das Urteil von Dienstag daher erst, wenn man weiß, dass sich das deutsche Verfassungsgericht mit dem EuGH seit Jahrzehnten ein zähes Match um die Auslegung der europäischen Verträge liefert. Dabei geht es jedoch nur vordergründig um unterschiedliche Interpretationen des EU-Rechts, sondern vielmehr um den Verlust staatlicher Souveränität in der EU und letztlich um die Frage, welches Verfassungsgericht in Europa das letzte Wort hat. Dabei haben alle Mitgliedstaaten bei der Unterzeichnung der EU-Verträge zugestimmt, dass für die gerichtliche Wahrung des EU-Rechts der EuGH in Luxemburg zuständig ist. Die permanente Einmischung eines nationalen Verfassungsgerichts, das überlegenes Wissen gegenüber allen anderen Akteuren in der EU beansprucht, ist da wenig hilfreich.

Eine Art Rechtsbeugung?

Sie mündet jetzt in eine Konfrontation, die sich nicht mehr als sachliche Kritik schönreden lässt. Die Richter des EuGH müssen sich vielmehr von ihren deutschen Kollegen anhören, eine Art von Rechtsbeugung begangen zu haben. Das ist nicht nur schlechter Stil, sondern auch abwegig, weil sich der EuGH mit der EZB-Entscheidung sachlich auseinandergesetzt hat.

Das jüngste Ergebnis dieser Karlsruher Rechthaberei ist jedoch nicht nur ein Affront, sondern hat erhebliche Folgen für die Akzeptanz des EU-Rechts. Gegenwärtig wird der vom ersten Kommissionspräsidenten Walter Hallstein geprägte Gedanke, dass die EU eine "Rechtsgemeinschaft" ist, bis zum Äußersten strapaziert. Einige Mitgliedstaaten wie Polen und Ungarn befinden sich mit der EU in einem rechtsstaatlichen Dauerclinch, weil sie die Unabhängigkeit der Justiz, der Medien und der Universitäten massiv beeinträchtigen sowie Minderheiten diskriminieren. Diese illiberalen Demokratien bekommen eine schöne Vorlage serviert. Warum sollen sie sich die Chance entgehen lassen, künftig missliebige EuGH-Urteile beiseitezuschieben? In Warschau wird das Urteil bereits gefeiert.

Wenn das BVerfG geglaubt hat, es leiste mit seiner Aufforderung zur juristischen Einhegung geldpolitischer Entscheidungen einen Beitrag zur Legitimation Europas, war es entweder naiv oder hat sich selbst überschätzt. Indem es seine eigenen rechtlichen Vorstellungen zum Maßstab für alle europäischen Organe erhebt, beschädigt es sich nicht nur selbst, sondern betätigt sich auch als Abrissbirne für die europäische Rechtsgemeinschaft. Die negativen Folgen des Urteils reichen damit weit über die Ankaufspolitik der EZB hinaus. (11.5.2020)