Johnson wirkt noch etwas mitgenommen von seiner Covid-19-Erkrankung.

Foto: AFP/ANDREW PARSONS

In Großbritannien wächst die Kritik an der Corona-Politik der konservativen Regierung. Nach tagelangem Schlingerkurs lockerte Boris Johnson in einer TV-Ansprache am Sonntagabend den Lockdown, mahnte aber gleichzeitig zu äußerster Vorsicht. "Bleiben Sie wachsam", lautet der neue Slogan des Premierministers. Die Regionalregierungen von Schottland und Wales sowie die Londoner Labour-Opposition kritisierten die Kommunikation der Downing Street als unklar, die Gewerkschaften forderten besseren Schutz von Arbeitnehmern vor Ansteckung.

Die Insel verzeichnet noch immer täglich Tausende von Neuinfektionen mit Sars-CoV-2, in Krankenhäusern sowie Alten- und Pflegeheimen sterben jeden Tag Hunderte von Menschen. Dem Gesundheitsministerium zufolge sind bisher 31.587 Menschen Covid-19 zum Opfer gefallen; seriöse Schätzungen sprechen von mehr als 47.000 Toten. Das Land geht am Dienstag in die achte Woche von Ausgangsbeschränkungen, die bisher das Verlassen der Wohnung nur für dringende Einkäufe, Arzt- oder Apothekenbesuche sowie täglich einmal Sport erlaubten.

Wales und Schottland einen Schritt voraus

Johnsons Lockerungen hatten die Regierungen von Wales (Labour) und Schottland (Nationalpartei SNP) bereits vorweggenommen. So dürfen Gärtnereien in Wales schon seit Freitag wieder öffnen, in England kommt es erst am Mittwoch dazu. Einheitlich gilt ab Mittwoch, dass die Bürger wieder mehrmals am Tag für sportliche Betätigung das Haus verlassen dürfen. Hingegen ist Sonnenbaden in Parks und Grünflächen dann nur in England offiziell erlaubt – eine Lockerung, die viele Briten am sonnig warmen verlängerten Wochenende bereits vorab genossen.

"Wir verlieren den Kampf", teilte beispielsweise die Polizei des Ostlondoner Bezirks Hackney mit und verbreitete ein Foto, auf dem Dutzende von Sonnenanbetern und Picknickern zu sehen waren. Tatsächlich unterschied sich die Szenerie in lokalen Parks kaum von "normalen" lieblichen Maiwochenenden. Auch der Autoverkehr in der Metropole war beträchtlich. Immerhin blieben die Londoner in den Schlangen vor Lebensmittelgeschäften sowie Pubs und Cafés, die Getränke zum Mitnehmen anbieten, diszipliniert auf Abstand.

Masken nicht verpflichtend

Statt wie bisher "Bleiben Sie daheim" ("stay home") lautet die Regierungsanweisung nun, "wachsam" zu bleiben ("stay alert"). Gesichtsmasken werden für Einkäufe und Fahrten mit öffentlichen Verkehrsmitteln empfohlen, sind aber nicht verpflichtend. Analog zur Terrorwarnung wird eine Epidemieskala von 1 (schwache Gefährdung) bis 5 (unmittelbare Gefahr) eingeführt. Derzeit liegt das Land bei 4.

Im Juni sollen schrittweise Schulen und Geschäfte wieder öffnen. Hotels sollen frühestens im Juli folgen, kündigte Johnson an. Um Neuinfektionen über das Ausland zu vermeiden, sei außerdem "bald die Zeit", Quarantänemaßnahmen über Einreisende über den Luftweg zu verhängen. Frankreich stellte umgehend klar, dass solche Maßnahmen nicht für französische Staatsbürger gelten.

Seiner Fernsehansprache will Johnson am Montag eine Regierungserklärung im Unterhaus folgen lassen. Dabei soll ein umfangreiches Informationspaket veröffentlicht werden, mit dem das Kabinett seine neue Vorgehensweise rechtfertigt. Der Regierungschef musste sich von Speaker Lindsay Hoyle Kritik dafür gefallen lassen, dass er die Lockdown-Veränderungen nicht zunächst im Parlament vorstellte.

Versprechen von "200.000" Tests pro Tag

Der Grund dafür dürfte Keir Starmer heißen: Beim ersten Schlagabtausch mit dem neuen Labour-Oppositionsführer wirkte Johnson vergangenen Mittwoch unvorbereitet und defensiv. Die forensische Befragung durch den einstigen Chefstaatsanwalt verleitete den noch immer mitgenommen aussehenden Covid-Rekonvaleszenten zu dem Versprechen, bis Monatsende werde Großbritannien täglich 200.000 Corona-Tests anbieten. Das zuvor geltende Ziel von 100.000 Tests täglich ist bisher erst an einem Tag, dem 30. April, erreicht worden.

In der Downing Street gibt es offenbar erhebliche Kritik an Gesundheitsminister Matthew Hancock. Einem Bericht der "Mail on Sunday" zufolge beschwerte sich dieser bei Johnson über die anonyme Flüsterpropaganda durch dessen Berater: "Lasst mich in Frieden!" ("give me a break").

Pressekonferenzen seien "Zahlentheater"

Unterdessen verstärken Wissenschafter ihre Kritik an den täglichen Pressekonferenzen, bei denen jeweils wechselnde Kabinettsmitglieder sowie Spitzenbeamte der Gesundheitsbehörde das Regierungsvorgehen verteidigen. Dabei handele es sich um "ein Zahlentheater", höhnt der Cambridger Professor David Spiegelhalter, nicht aber um eine vertrauenswürdige Vermittlung von Fakten. Den renommierten Statistiker hatte Johnson im Unterhaus als Zeugen gegen internationale Vergleiche der Todeszahlen zitiert, wogegen sich Spiegelhalter per Twitter verwahrte.

Natürlich sei interessant zu wissen, so der Professor in der BBC, "warum Großbritannien in eine Gruppe mit Frankreich, Spanien, Italien und Belgien gehört und nicht zu Ländern mit deutlich weniger Sterbefällen wie Deutschland, Österreich oder Dänemark". (Sebastian Borger aus London, 10.5.2020)