Sophie Thuns vorübergehende Dunkelkammer in der Secession ist eine handwerkliche Lehrstunde in Sachen Fotografie.

Foto: Pascal Petignat

Kennen Sie Ihre eigene Wohnung nach zwei Monaten Corona-Krise schon genauer, als Ihnen lieb ist? Dann lernen Sie jetzt eine andere kennen! Nämlich jene der Wiener Künstlerin Sophie Thun. Sie transzendiert den Lagerkoller künstlerisch. Dazu inventarisiert sie seit Ende April Alltagsgegenstände aus ihrer Wohnung in der Wiener Stolberggasse unter dem wachsamen Auge einer mit dem Internet verbundenen Überwachungskamera in der Wiener Secession fotografisch. Zuschauen kann man dabei rund um die Uhr, man sollte allerdings etwas Geduld aufbringen, denn zuweilen regt sich wenig in der temporären Dunkelkammer. Keine Spur von der Künstlerin am Montagvormittag.

Was man stattdessen sieht? Still und starr stehen die provisorischen Arbeitstische, Wannen mit Entwicklerflüssigkeit und weiteres Werkzeug, das Thun braucht, um Trinkgläser, Bücher, CDs, Brillen, Handschuhe und weiteren Kleinkram, der das Format eines Großbildnegativs nicht übersteigt, auf schwarz-weiße Fotogramme zu bannen, die sie an die Wände hängt. Hunderte sollen es in den kommenden Wochen werden.

Der Zeit ihre Kunst

Die Idee dazu – allerdings ohne Webcam – hatte Thun schon, bevor sie durch die Corona-Isolation aktuell wurde. Sie wäre vielleicht spleenig erschienen. Nun aber treffen sich die an der Fassade es Baus beschworene Zeit und ihre Kunst quasi auf Augenhöhe.

Auf den Aufnahmen der Überwachungskamera sind die Fotogramme eher schlecht zu erkennen. Ein klarer Hinweis darauf, dass es im digitalen Ausstellungsraum um mehr als nur um sie gehen muss. Die Webcam als Anspielung auf die Vielzahl von künstlerischen Streams seit Corona-Ausbruch ist dabei nur ein Aspekt. Die 1985 geborene Künstlerin setzt sich oft mit den Rahmenbedingungen des Kunstschaffens auseinander. Wo wird eine Arbeit etwa präsentiert? Weil durch eine Fensterfront zu viel Licht in den Ausstellungsraum käme, um dort Fotos zu entwickeln, hat Thun den Ausblick hinaus abfotografiert und im Maßstab 1:1 davorgehängt. Der stillgestellte Ausblick passt wiederum zum Lockdown.

Secession Vienna

Thun arbeitet nicht nur hier vor und hinter der Kamera zugleich. Ständig taucht sie in ihren Werken selbst auf, etwa in collagierten Szenen, in denen sie mit sich selbst Sex zu haben scheint. Solche Fotos hat sie im Stiegenhaus zum Grafischen Kabinett untergebracht. Die Webcam streift sie nicht, man kann aber Aufnahmen auf der Website der Secession sehen, und wenn das Haus ab 16. Juni seinen Ausstellungsbetrieb mit Videoarbeiten von John Akomfrah und rätselhaften Installationen von Michael E. Smith wieder aufnimmt wohl auch vor Ort. Als erste eigens für den Lockdown konzipierte Onlineausstellung ist Stolberggasse bis dahin seltsam treffend. (wurm, 11.5.2020)