Ines Ibbou ist ein unbeschriebenes Blatt. Selbst eingefleischte Tennis-Aficionados haben von der Algerierin wohl wenig bis gar nichts gehört. Sie ist 620. der WTA-Weltrangliste, 21 Jahre alt und hat in ihrer Karriere 27.825 Dollar an Preisgeld gesammelt. Zum Vergleich: Wenn man in der ersten Runde der Australian Open scheitert, nimmt man 60.239 US-Dollar mit. Auch für Dominic Thiem ist Ines Ibbou wohl ein unbeschriebenes Blatt. Aber für Ines Ibbou ist Ines Ibbou ein ganzes Buch, ein Buch voller Leidenschaft, Erfolge, Rückschläge, Kämpfe, Comebacks. Und steht für ein Leben, das sie entgegen den geringen Aussichten auf großen Erfolg dem Tennissport verschrieben hat. In Algerien führt Tennis ein Nischendasein.

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Ibbou kennt dafür Thiem. No na, der Österreicher ist Nummer drei der Weltrangliste, ein Topstar. Kürzlich sprach sich der 26-Jährige gegen den geplanten Hilfsfonds anderer Stars aus, der eine Verteilung unter den schlechter platzierten Spielerinnen und Spielern vorsah: "Da sind Spieler dabei, die ich nicht gerne unterstützen würde. Ich möchte mir die Spieler aussuchen, dann profitieren jene, die es verdienen."

"Wie wäre es wohl, Dominic Thiem zu sein"

Als Reaktion auf Thiems Standpunkt drehte Ibbou ein Video. Und richtet sich in einem offenen Brief direkt an den Österreicher. Es ist unwahrscheinlich, dass sie seine Telefonnummer hat.

"Lieber Dominic, nachdem ich dein Statement gelesen habe, habe ich mir vorgestellt, wie es denn wäre, in deiner Haut zu stecken. Ja, wie wäre es wohl, Dominic Thiem zu sein?"

Ibbou erzählt aus ihrem Buch, aus ihrer Geschichte: über die Schwierigkeiten als tennisspielende Frau in Algerien, über die Schwierigkeiten bei der Sponsorensuche, über die Schwierigkeiten ohne das Privileg von Eltern als Coaches, über den Stellenwert von Tennis in Afrika, über den Mangel an Infrastruktur.

"Wenn du nur wüsstest, Dominic.

(...)Es gibt in Algerien keinen einzigen Trainer auf internationalem Level. Es gibt keinen einzigen Indoor-Court. Aber versteh mich nicht falsch: Das alles hat mich nicht aufgehalten, mit 14 Jahren eine der besten Spielerinnen der Welt zu werden. Meine ersten WTA-Punkte habe ich in diesem Alter mit dem Titel bei einem 10.000er-Event geholt. Nicht schlecht, oder? Und so wie du war ich in den Höhen des ITF-Junior-Rankings."

"Bitte mach das nicht kaputt"

Ibbous Stimme wirkt nicht weinerlich, nicht aggressiv, aber bestimmt. Sie gibt einen Einblick in die Tenniswelt abseits der roten Teppiche, vollbesetzten Trainerteams, glamourösen Player-Partys und Erste-Klasse-Flüge rund um die Welt. Dafür gibt es Probleme mit Visa, billigen Absteigen in Turniernähe und Einsamkeit. Manchmal pathetischer, manchmal weniger.

"Ja, das sind alles Opfer, die Teil des Spiels sind. Aber: Den Ausgang meiner Karriere soll meine Leistung auf dem Platz bestimmen, nicht mein Bankkonto. Das ist unfair. So ist mein Alltag, und ich beschwere mich nicht, sondern kämpfe jeden Tag in Stille. Lieber Dominic, ich bin nicht allein, vielen geht es so wie mir, nicht wie dir. Das ist nur eine Erinnerung daran, dass wir bis jetzt auch ohne dein Geld überlebt haben. Und niemand hat irgendetwas von dir gefordert. Die Initiative kam von großzügigen Spielern, die sofort Mitgefühl und Solidarität gezeigt haben. Die unerwartete Krise hat uns eine herausfordernde Zeit beschert und zeigt, wer wir wirklich sind. Spielern zu helfen hilft dem Tennissport zu überleben. Der Sinn des Sports ist herauszufinden, wer der Talentierste, der Ehrgeizigste, der am härtesten Arbeitende, der Mutigste ist. Oder willst du allein auf dem Platz stehen? Dominic, wir haben nichts von dir verlangt, außer ein bisschen Respekt für unsere Opfer, unsere Hingabe.

Spieler wie du lassen mich an meine Träume glauben. Bitte mach das nicht kaputt."

Zuspruch

Ibbous Videobrief ist weder ein unmittelbarer Hilfeschrei noch eine Anklageschrift. Vielmehr zeigt die Algerierin die unterschiedlichen Realitäten auf, in denen sich Tennis und wohl auch andere Sportarten bewegen. Es ist ein Drahtseilakt zwischen Talent, Privilegien, Leidenschaft und Realität. Träume von der Weltspitze machen nicht satt, aber ohne Ambitionen wird Sport schnell zur Freizeitbeschäftigung einer privilegierten Minderheit. Das Video zeigte jedenfalls schon Wirkung: Die siebenfache Grand-Slam-Siegerin Venus Williams kommentierte den Social-Media-Eintrag mit "Du bist meine Heldin." Auch Nick Kyrgios zollte der Algerierin auf Instagram "Respekt".

In einem Interview nach der Veröffentlichung zeigte sich Ibbou von den Reaktionen zu ihrem Video überwältigt: "Ich fühle mich zum ersten Mal gehört und verstanden." Sie habe mit ein paar Reaktionen von niedrigplatzierten Spielern gerechnet, aber nicht von "all diesen Menschen. Da fehlen mir die Worte." Sie hoffe außerdem, dass das Video bis zur ITF und WTA vordringe und sie "an der Tour etwas ändern. Ich hoffe, sie machen sich Gedanken und helfen uns." Und vielleicht kennt Dominic Thiem Ines Ibbou jetzt dann bald auch. (Andreas Hagenauer, 11.5.2020)