Innsbrucks Bürgermeister Georg Willi will mehr Tempo.

Während die Corona-Beschränkungen nicht nur in Österreich von Woche zu Woche mehr gelockert werden, wächst überall die Zahl der kritischen Stimmen, die das Vorgehen der Regierungen rückblickend kritisieren und eine schnellere Öffnung verlangen. Darunter sind auch Politiker und Experten, die zumindest in der Anfangsphase die Lockdown-Politik mitgetragen haben und deshalb als glaubwürdig gelten. Bei dieser Regierungskritik verbinden sich viele unterschiedliche Argumentationstränge.

In Österreich ruft etwa der grüne Innsbrucker Bürgermeister Georg Willi in einem Presse-Interview am Montag angesichts der niedrigen Zahl an Corona-Fällen zu einer rascheren Lockerung für Kultur, Sport und Reisen auf. Er verweist dabei vor allem auf die Wünsche der Bevölkerung. "In Summe wollen die Menschen, dass die Lockerungen schneller vonstattengehen."

In dieses Horn bläst schon seit Längerem der Grazer Public-Health-Experte Martin Sprenger, der aus dem Krisenstab der Regierung ausgestiegen ist, weil ihm die Maßnahmen zu weit gingen. Bis kurz vor Ostern habe die Politik richtig gehandelt, doch dann hätte der Rückgang der Fallzahlen einen Kurswechsel auslösen müssen. Die Regierung habe verabsäumt, "mit 30. März den Schalter vorsichtig umzulegen", sagt Sprenger in der Tiroler Tageszeitung. Dies habe möglicherweise mehr Menschenleben gekostet als gerettet, argumentiert Sprenger, weil viele Kranke aus Angst nicht ins Spital gegangen sind und soziale, psychische, pädagogische und ökonomische Schäden in Kauf genommen worden seien. Was fehle, sei eine konsequente "Gesundheitsfolgenabschätzung" aller Maßnahmen.

Immer mehr seriöse Wissenschafter stoßen sich daran, dass die Regierung Entscheidungen ohne sichere Datenlage trifft. In einem STANDARD-Interview hat die Gesundheitsexpertin Claudia Wild, Geschäftsführerin des Austrian Institute for Health Technology, vor kurzem die "Abstandsregeln beim Sport im Freien" sowie "die ganze Maskentragerei" als "wissenschaftlich nicht nachvollziehbar" bezeichnet. Auch der Mediziner Franz Allerberger, Abteilungsleiter der Ages und Berater von Gesundheitsminister Rudolf Anschober, betont nun im Profil-Interview: "Der Nutzen einer generellen Maskenpflicht ist wissenschaftlich nicht belegt."

Allerberger geht aber einen Schritt weiter und stellt die Gefährlichkeit des Coronavirus infrage. Er verweist auf zahlreiche Fälle, in denen es trotz relativ großer Nähe zu keiner Ansteckung kam. Die Reproduktionszahl von Sars-CoV-2 ist zwar mit 3,6 höher als bei der Grippe mit 1,2, aber deutlich niedriger als bei Masern und Pocken. "Dieses Virus ist nicht so ansteckend, wie manche annehmen."

Allerberger zitiert auch Studien des deutschen Virologen Hendrik Streeck und John Ioannidis von der Stanford University, die in regionalen Stichproben im deutschen Kreis Heinsberg und im kalifornischen Santa Clara eine sehr hohe Dunkelziffer festgestellt haben – und daraus die Schlussfolgerung zogen, dass das Virus viel weniger tödlich sei als gedacht. Mit Todesraten von unter 0,2 oder 0,4 Prozent sei es "von der Grippe nicht weit entfernt".

Zahlen wie diese werden gerne von Politikern und Kommentatoren zitiert, die alle Corona-Beschränkungen als Freiheitsentzug ablehnen und damit Stimmung machen. In der Wissenschaft aber stoßen Streecks und Ioannidis’ Thesen auf breite Kritik. Denn die eingesetzten Antikörpertests seien unzuverlässig, die Stichproben klein, die untersuchten Regionen nicht repräsentativ und die Studien nicht ausreichend geprüft. Und die Forscher würden zulassen, dass mit ihren Namen legitime wissenschaftliche Debatten für populistische Kampagnen missbraucht werden. (Eric Frey, 12.5.2020)