Der Künstler, der sprayt, heißt Angst. Auch er verarbeitet die Corona-Krise.

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Wien – Ausnahmezustand, Lockdown, die Angst vor den anderen und einer möglichen Ansteckung: Zwar ist die akute Phase der Corona-Pandemie in den meisten europäischen Ländern mehr oder weniger vorbei, doch nicht allen fällt das Umschalten auf "normal" so leicht. Nach Wochen in der Isolation ist die "neue Normalität", wie Bundeskanzler Sebastian Kurz es nennt, trotz aller Erleichterung eine Herausforderung: das Tragen der Masken, das Achten auf den Abstand und das Quasiverbot von Berührungen – ganz zu schweigen von Umarmungen.

"Menschen sind in erster Linie soziale Wesen, deshalb fällt Social Distancing auch wirklich schwer", sagt Psychotherapeutin Sabine Sommerhuber, und die Klinische Psychologin Doris Wolf betont, dass die soziale Distanz ja in erster Linie eine physische Distanz sein sollte. Das fordert Psychologen und Psychotherapeuten in ihrer Arbeit mit Klienten gleichermaßen.

Was beide erstaunt hat: Die reale Angst vor einer Infektion hat – zumindest eine Zeitlang – psychische Grunderkrankungen manchmal scheinbar etwas in den Hintergrund gedrängt: "Jetzt, wo die kollektive Angst kleiner wird, kommen auch die psychischen Erkrankungen wieder zurück." Bipolare Störungen, schizophrene Schübe, Depressionen, aber auch Angststörungen sind plötzlich wieder da.

Reale und irreale Angst

Die Erklärung dafür: Die Angst vor einer Infektion war real – also eine Angst, die nahezu alle in den letzten Monaten dominiert und damit auch den Stoffwechsel im Gehirn beeinflusst hat. "Physiologisch bedeutet Angst eine Stressreaktion im Körper", erklärt die Grazer Psychologin Doris Wolf. Gäbe es diesen Mechanismus im Organismus nicht, wären die Menschen mit großer Wahrscheinlichkeit ausgestorben. Denn an sich hat Angst eine wichtige Schutzfunktion. Die Angst vor Unbekanntem soll den Fortbestand der menschlichen Spezies sichern. Adrenalin ist eines jeder Hormone, die den Körper in einen Alarmzustand versetzen.

Bei Angst wird der Puls schneller, die Atmung flacher, die Muskeln spannen sich, man reagiert rascher als sonst. Theoretisch sind all diese Funktionen bei Kampf oder Flucht vorteilhaft. In der Phase der Entspannung soll der Organismus wieder in den Normalbetrieb zurück – theoretisch. Bei Patienten mit Panikattacken kommen die Angstschübe auch dann, wenn es an sich keine reale Gefahrensituation gibt. "Es ist eine Entgleisung im Gehirn, es laufen Mechanismen ab, ohne dass es de facto eine Situation gibt, vor der man sich fürchten müsste", erklärt Sommerhuber den Unterschied zwischen Angst als Schutzmechanismus und Angst als Selbstläufer, quasi als "eine Entgleisung im Gehirn".

Gehirn überflutet

Die Überflutung des Gehirns mit Stresshormonen könne dazu führen, dass Menschen "im Moment gar nicht mehr klar denken können", sagt auch Psychologin Wolf. Ihr Mittel gegen die Corona-Angst waren in jedem einzelnen Gespräch stets sachliche Informationen in Bezug auf die virale Bedrohungssituation. "Im Internet kursieren jede Menge Fake-News", sagt sie und benennt damit eines der Probleme.

Tendenziell verängstigte Menschen nehmen Katastrophenmeldungen überproportional ernst. "Egal, weswegen Klienten mich in den letzten zwei Monaten konsultiert haben – angstreduzierende, sachgerechte Aufklärung war immer erforderlich", berichtet Wolf, und so nutzte sie das fundierte Behandlungsrepertoire der klinisch-psychologischen Behandlung, um Menschen einen adäquaten Umgang mit ihren Ängsten zu vermitteln.

"Psychotherapie ist eine Form, Angst zu bewältigen oder mit ihr umgehen zu lernen", unterstreicht auch Sommerhuber. "Es mag vielleicht nicht spektakulär klingen, aber mit anderen darüber reden, was passiert ist und was einem Angst macht, ist psychisch eine wirklich gute Strategie", betont sie.

Hotline für Probleme

Auch Leonore Lerch, Vorsitzende des Wiener Landesverbands für Psychotherapie, fordert mehr unkomplizierte Hilfe bei psychischen Belastungen in der Corona-Krise.

Die Organisation betreibt seit einem Monat eine telefonische Helpline unter der Nummer 0720120012. Zwischen 6. April und 6. Mai gingen 762 Anrufe ein. 27,6 Prozent der Anrufenden waren 20 bis 40 Jahre, 31,9 Prozent 40 bis 60 Jahre alt. 17,6 Prozent waren Menschen älter als 80. Die Gemeinsamkeiten: Drei Viertel der Anrufe kamen aus Singlehaushalten, und soziale Isolation war dort das größte Problem. Die häufigsten psychischen Befindlichkeiten: Ängste und innere Unruhe (21,2 Prozent), Einsamkeit (20 Prozent), Verzweiflung und Hilflosigkeit (17,6 Prozent), depressive Stimmung (14 Prozent) sowie Reizbarkeit und Ärger (sechs Prozent).

"Menschen, die Angst haben, schütten verstärkt Stresshormone aus, die wiederum Einfluss auf die Funktionsfähigkeit des Immunsystems haben", ergänzt Psychologin Wolf und meint das biopsychosoziale Gesundheitsmodells der WHO, das den Menschen nicht isoliert, sondern seine Gesundheit als Zusammenwirken in seinem sozialen Kontext betrachtet. Ein anderer Fachbegriff ist in dem Zusammenhang der der Psychoneuroimmunologie: Stress und Angst schwächen, zeigen Studien, auch das Immunsystem.

Eine Online-Befragung der Donau-Universität Krems, an der 1.009 Menschen teilnahmen, bestätigt die Sorge um die psychische Gesundheit. "Besonders belastet ist die aktuelle Situation für Erwachsene unter 35 Jahren, Frauen, Singles und Menschen ohne Arbeit, während Menschen über 65 Jahre deutlich weniger belastet sind", sagt Studienleiter Christoph Pieh, Leiter des Departments für Psychotherapie und Biopsychosoziale Gesundheit. Die Auswirkungen auf die psychische Gesundheit zeigten einen signifikanten Anstieg psychischer Probleme. "Und wir wissen auch, dass Eltern Ängste an ihre Kinder weitergeben", komplettiert Sommerhuber das Bild und spricht sich für einen Ausbau der Notfallpsychologie aus.

Sprache als Therapie

Die gute Nachricht: "Reden hilft erwiesenermaßen gegen die Angst, es ist eine Bewältigungsstrategie und Teil unseres evolutionären Repertoires", sagt Doris Wolf. In Anlehnung an die Klinische Hypnose von Milton Erickson spricht man von "Storytelling". Es sei kein Zufall, dass die Jungen und Alten schon immer ihre Geschichten am Lagerfeuer erzählt hätten. "Es ist eine Form, mit neuen Situationen umgehen zu lernen." Auf diese Weise entstünden neue innere Repräsentationen und Lösungsbilder, die wiederum Sicherheit geben. "Erzählen entlastet das Gehirn", sagt Sommerhuber und rät den Leuten, Erfahrungen aktiv auszutauschen. Denn dabei entstehe auch ein Gemeinschaftsgefühl, das den sozialen Bedürfnissen der meisten Menschen entspreche.

Was es unbedingt zu vermeiden gelte, sei eine Verselbständigung der Angst. Unbehandelte Angst breitet sich ähnlich wie ein Virus aus und kann zu einer generalisierten Angststörung führen, von der sämtliche Lebensbereiche betroffen sein können. Viele Menschen entwickeln durch Dauerbelastungen Zwänge, um dadurch das Gefühl von Kontrolle wieder zurück in ihr Leben zu bringen. "Niemand will mit einem Menschen zusammen sein, der sich vor lauter Angst 50-mal am Tag die Hände wäscht", nennt Sommerhuber das Beispiel einer Zwangsstörung, die sich durch die Corona-Krise leicht ergeben könnte. Ihr Nachsatz: Auch Alkohol oder Drogen werden sehr oft als Mittel gegen die Angst missbraucht.

Mut tanken

"Es ist wichtig, dass für besonders belastete Personengruppen rasch psychische Hilfsangebote geschaffen werden", fordert auch Pieh. Dass Psychotherapie eine bewährte Strategie gegen Angst ist, dafür gebe es genug Evidenz. Sie ist im Gegensatz zu anderen psychischen Erkrankungen sogar besonders effektiv. Sie verhindert, dass Ängste sich festsetzen, verselbstständigen und plötzlich auftauchen, wenn man nicht damit rechnet. "Schweigen und Tapferkeit sind ganz und gar keine guten Strategien, Angst wieder loszuwerden", warnt die Psychotherapeutin.

Psychologin Doris Wolf rechnet so wie viele ihrer Kollegen mit einem Anstieg der psychischen Erkrankungen – aus unterschiedlichen Gründen. "Wenn ich Angst habe, im nächsten Monat die Miete nicht mehr zahlen zu können, werden unsichtbare Viren wahrscheinlich in den alltäglichen Gedanken eine untergeordnete Rolle spielen", vermutet sie. (Karin Pollack, 13.5.2020)