Im Unterhaus findet das meiste Gerede nun virtuell statt.

Foto: Reutres/ PARLIAMENT/JESSICA TAYLOR

Gerade wollte Heather Wheeler vom wunderbaren Gemeinschaftsgeist in Corona-Zeiten schwärmen – da erlitt die Abgeordnete für den lieblichen Wahlkreis Süd-Derbyshire, was rund um die Welt täglich vielen Menschen passiert: Ihre Internetverbindung brach kurzzeitig zusammen. Die 60-Jährige reagierte darauf genervt mit "Oh, fucking hell", was höflich übersetzt "verdammte Scheiße" bedeutet. Das betretene Schweigen über diese unparlamentarische Sprache unterbrach Vize-Speaker Nigel Evans im Plenarsaal des Londoner Unterhauses elegant und ohne mit der Wimper zu zucken: "Wir können Sie hören. Bitte fahren Sie fort."

Tags darauf amüsierte die kleine Szene die Nation und machte auch viele politische Uninteressierte auf eine revolutionäre Neuerung aufmerksam. Im altehrwürdigen Palast von Westminster hat Sars-CoV-2 für einen gewaltigen Modernisierungsschub gesorgt: Die "Mutter des Parlaments" tagt neuerdings als virtuelles Hohes Haus. Im Oberhaus bleiben die roten Bänke gänzlich verwaist, im Plenarsaal des Unterhauses verlieren sich höchstens drei Dutzend Abgeordnete auf die sonst häufig vollgepackten grünen Bänke. Am Dienstag stimmten erstmals Volksvertreter auch virtuell ab – bisher war nur der Hammelsprung erlaubt.

Zoom im Unterhaus, Microsoft im Oberhaus

Zu den technischen Neuerungen kommt eine gänzlich veränderte Atmosphäre hinzu. Zwei der fünf Bänke auf jeder Seite des Unterhauses bleiben gänzlich frei. Zusätzlich zieren rote Verbotszeichen mit weißem, durchgestrichenem Kreis viele Plätze, nur wenige weiße Haken auf grünem Grund weisen zu jenen Plätzen, wo die Abgeordneten derzeit Platz nehmen dürfen. In der Mitte des Saales sind große Bereiche mit grün-schwarzem Klebeband markiert, um Kollisionen zu vermeiden.

Während im Unterhaus Mister Speaker Lindsay Hoyle oder einer seiner Stellvertreter persönlich präsidiert, leitet im Oberhaus Lord Speaker Norman Fowler die Sitzungen von zu Hause aus – schließlich gehört der frühere Gesundheitsminister mit seinen 82 Jahren der Risikogruppe an. Die virtuelle Verbindung zu den Debattenrednern klappt, jedenfalls meistens, im Unterhaus mit Zoom, das Oberhaus vertraut dagegen auf Microsoft-Technik – feine Unterschiede müssen sein.

Hingegen ähneln die Debatten im Unterhaus nun viel stärker dem viel höflicheren Meinungsaustausch im Oberhaus. Statt der normalerweise üblichen lauten Anfeuerungen der eigenen Parteifreunde und Zwischenrufe der Gegenseite verlesen die Parlamentarier ihre Redebeiträge – die oft vergnüglichen Zwischenfragen bleiben aus technischen Gründen aus.

Zeitlich begrenzte Maßnahmen

Es handle sich um "ungewöhnliche und zeitlich begrenzte Maßnahmen", hat Speaker Hoyle beteuert, aber wer weiß das schon? Der Labour-Mann forderte in der ersten Sitzung nach den Osterferien die 649 anderen Wahlkreisvertreter ausdrücklich dazu auf, mit Blick auf die anhaltende Gefährdung der Parlamentsmitarbeiter wenn möglich den Plenarsitzungen fernzubleiben: "Ich möchte das Risiko möglichst kleinhalten." An die Maßgabe halten sich längst nicht alle, selbst nicht all jene 24 Männer und Frauen, die ihren 70. Geburtstag hinter sich haben und damit auf der Insel offiziell als gefährdet gelten. So ließ es sich Labours Ex-Parteichef Jeremy Corbyn (70) nicht nehmen, dem ersten Auftritt seines Nachfolgers Keir Starmer persönlich beizuwohnen.

Inzwischen hat der neue Oppositionsführer und frühere Chef-Staatsanwalt nicht nur Vizepremier Dominic Raab, sondern auch Premierminister Boris Johnson selbst seinen forensischen Befragungen unterzogen, zu deren erkennbarem Unwohlsein. In der Fragestunde des Premierministers waren beide Kontrahenten jeweils vor Ort; sobald aber Hinterbänkler zu Wort kamen, wanderten Raabs und Johnsons Augen über die Köpfe der Labour-Bänke hinweg auf einen der acht riesigen Bildschirme.

Dort erscheint der oder die jeweilige Fragende aus dem heimischen Arbeitszimmer. Zu den dauerhaft absenten Volksvertretern zählen fast alle Schotten und Waliser, aber auch der liberale Fraktionschef Edward Davey, dessen Wahlkreis vor den Toren Londons liegt.

Keine langen Anfahrten

Viele der Abgeordneten aus weiter entfernt liegenden Bezirken freuen sich über den Wegfall der langen Anfahrten. Die Birminghamer Labour-Politikerin Jessica Phillips macht freilich auch auf die Nachteile der Regelung aufmerksam: Zur Interessenwahrung ihrer Bevölkerung sei nun mal der Austausch mit anderen Politikern, zumal mit amtierenden Ministern und Staatssekretären, auf dem kleinen Dienstweg wichtig. Für die Regierung hat der zuständige Gesetzgebungsminister Jacob Rees-Mogg immerhin Zurückhaltung bei umstrittenen Vorhaben angekündigt: "Was wir auf virtuellem Weg nicht erledigen können, das machen wir eben nicht."

Die Nation bewundert derweil die privaten Bücherwände gelehrter Damen und Herren Volksvertreter oder das Schottenkaro des Nationalisten-Fraktionschef Ian Blackford. Einen Labour-Kollegen ermahnte Speaker Hoyle, dieser dürfe nicht vor politischen Slogans Platz nehmen. Wheelers sprachlicher Fauxpas hingegen blieb ungeahndet – das Parlamentsprotokoll verzeichnete höflich "Unterbrechung". (Sebastian Borger aus London, 13.5.2020)