Wladimir Putin kündigte Lockerungen an, blickt aber noch einigermaßen sorgenvoll in die Zukunft

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Am Dienstag hat Russland nach den offiziellen Angaben des Corona-Operationsstabs Spanien bei der Zahl der Infizierten überholt und nimmt auch in der Statistik der amerikanischen Johns-Hopkins-Universität zumindest vorläufig Platz zwei hinter den USA ein. Durch die 10.899 gemeldeten Neuansteckungen erhöhte sich die Gesamtzahl der Fälle auf 232.200.

Die russischen Behörden verbinden die seit Anfang Mai drastisch gestiegenen Zahlen mit einer erhöhten Anzahl von Tests. Da die Zahl der Todesfälle mit insgesamt 2.116 zumindest offiziell moderat bleibt, sieht sich der Kreml in seiner Politik bestätigt. Präsident Wladimir Putin erklärte am Montag, dass sich die Zahl der Krankenhausbetten für Covid-19-Patienten von 29.000 auf 130.000 erhöht habe. Die vor sechs Wochen erklärten "arbeitsfreien Tage" hätten ihren Teil dazu beigetragen, die Verbreitung der Pandemie abzubremsen, um dem Gesundheitssystem genügend Zeit zur Vorbereitung zu geben. Inzwischen seien die Kapazitäten ausreichend, um mit den Folgen der Pandemie klarzukommen, sagte Putin.

Daher lockert der Kreml trotz der hohen Zahlen nun – vorsichtig – das Regime. Statt eines landesweiten Stopps für alle Unternehmen, die nicht als strategisch wichtig gelten oder Waren des täglichen Bedarfs herstellen oder verkaufen, entscheiden nun die Regionen, welche Firmen wieder in Betrieb gehen können und welche geschlossen bleiben.

Regionale Unterschiede

Für immerhin elf Regionen treten damit erste Erleichterungen in Kraft. So können in der ölreichen Wolga-Region Baschkortostan die Bürger nach Erlass des Provinzgouverneurs nun wieder auf die Straße zum Spazieren. Parks sowie Spiel- und Sportplätze werden freigegeben. Kleine Geschäfte, die einen eigenen Ausgang zur Straße besitzen, dürfen ebenfalls wieder öffnen. Große Shoppingzentren bleiben aber ebenso geschlossen wie Fitnessstudios, Museen, Restaurants und Nachtclubs.

In der Region Nowgorod wurden zudem noch Zahnarztpraxen und unter Auflagen Saunen geöffnet. Für Wehrpflichtige weniger erfreulich: Auch die Tauglichkeitsuntersuchungen für den Dienst an der Waffe nehmen die Behörden nach der wochenlangen Unterbrechung wieder auf. Neben den elf Startern wollen über 20 weitere Regionen in den nächsten Tagen über Lockerungen entscheiden.

Für die Hauptstadt Moskau und das Umland, aber auch St. Petersburg bleiben die restriktiven Maßnahmen hingegen vorerst in Kraft. Moskaus Bürgermeister Sergej Sobjanin, der in der Corona-Krise zu einem der wichtigsten Politiker des Landes aufgestiegen ist, hat das Regime der Selbstisolation bis Ende des Monats verlängert. In der russischen Hauptstadt gibt es landesweit mit Abstand die meisten Infizierten. Damit brauchen die Moskauer weiterhin einen Passierschein, wenn sie neben dem Besuch von Arzt, Apotheke oder dem nächsten Lebensmittelladen etwas in der Stadt zu erledigen haben. Überwacht wird das System mit Videokameras und einem Gesichtserkennungssystem. In der Hauptstadt erkrankte auch Putins Sprecher Dmitri Peskow: Am Dienstag wurde bekannt, dass er sich mit einer Covid-19-Erkrankung im Krankenhaus befindet.

Finanzielle Hilfen

Doch auch dort, wo erste Erleichterungen auf den Weg gebracht sind, bleiben die Behörden vorsichtig: Nach dem Beispiel Westeuropas ist inzwischen für Russen, die unterwegs sind, das Tragen von Masken und Handschuhen Pflicht. Bei Verstößen drohen Geldstrafen.

Doch es gibt neben der Peitsche auch Zuckerbrot. So hat Putin nun in einem dritten Hilfspaket Familien eine einmalige Zahlung von umgerechnet gut 120 Euro pro Kind zugesagt, um die Einkommensausfälle zu reduzieren. Unternehmen brauchen für das zweite Quartal keine Steuern zu bezahlen – außer der Mehrwertsteuer. Und ab dem 1. Juni sollen Firmen, die mindestens 90 Prozent ihrer Mitarbeiter halten, günstige Kredite bekommen. Allerdings jeweils nur in Höhe des monatlichen Mindestlohns pro Mitarbeiter (entspricht derzeit gut 130 Euro). Insgesamt wird der Umfang dieser Hilfsleistungen auf einen Wert von zehn Milliarden Euro geschätzt.

Aus der Kremlverwaltung heißt es, dass diese Maßnahmen zur Steigerung des Bruttoinlandsprodukts um 1,5 Prozent beitrügen. Allerdings sind die Schätzungen allesamt noch sehr unsicher. Finanzminister Anton Siluanow schätzt, dass Russlands BIP 2020 insgesamt um vier Prozent verliert. Die Zentralbank schätzt das Minus auf vier bis sechs Prozent, und der Сhef des Rechnungshofs, Alexej Kudrin, hatte sogar einen Einbruch von acht Prozent vorhergesagt. (André Ballin aus Moskau, 12.5.2020)