Das mittels Rasterelektronenmikroskop aufgenommene und nachbearbeitete Bild zeigt eine apoptotische Zelle (blau-grün, Apoptose = Zelltod), die von Sars-CoV-2 (gelb) stark infiziert wurde.

Foto: EPA / NIAID / National Institutes of Health

Sars-CoV-2 hat wie jedes andere Virus auch nur ein Ziel: sich vermehren und verbreiten. Dazu dringt es in die Zellen seines Wirts ein, programmiert sie um, sodass sie massenweise neue Viren produzieren und freisetzen. Die Informationen für diesen Plan sind im viralen Erbgut codiert, das bei Sars-CoV-2 aus nicht einmal 30.000 "Buchstaben" besteht.

Das erste vollständig entschlüsselte Genom des neuen Coronavirus machten chinesische Wissenschafter am 11. Jänner online verfügbar. Die Sequenzdaten erlaubten die rasche Entwicklung eines Nachweistests.

Seitdem haben Forscher aus aller Welt Sars-CoV-2 aus Patienten isoliert, sequenziert und die Daten in Online-Datenbanken hochgeladen: Über 16.000 Sequenzen zählt die Gisaid-Datenbank, die Wissenschaftern rund um den Globus normalerweise dazu dient, Daten über Influenzaviren zu teilen und gemeinsam zu analysieren. Täglich kommen hunderte Sequenzen hinzu.

Open-Source-Projekt

Zentral für die Auswertung der Coronavirus-Daten ist das Open-Source-Projekt Nextstrain. "Anhand der genetischen Daten des Virus können wir hier in Echtzeit sehen, wie es sich auf der ganzen Welt ausbreitet", erklärt die Molekularepidemiologin und Mitentwicklerin von Nextstrain Emma Hodcroft von der Universität Basel. Das Team analysiert Genomsequenzen, erstellt Stammbäume, visualisiert Übertragungsketten und Ausbreitungswege und stellt alles online.

Auch von einem Forschungsinstitut aus Österreich wurden bereits die die ersten Sars-CoV-2-Genome veröffentlicht – das Zentrum für Molekulare Medizin (CeMM) der Österreichischen Akademie der Wissenschaften (ÖAW) hat diese Arbeit, wie berichtet, in Kooperation mit dem Zentrum für Virologie der Med-Uni Wien und mit Unterstützung vom Wiener Wissenschaftsfonds WWTF publiziert.

Einzelne Tippfehler

Es geht bei all diesen Forschungsarbeiten um Mutationen, also kleine Veränderungen des Erbguts, die Viren mit der Zeit unweigerlich ansammeln: Um sich zu vermehren, muss ihr Erbgut tausende Male Buchstabe für Buchstabe kopiert werden. Bei dieser Abschrift passieren ab und an einzelne Tippfehler.

Gelingt es den neuen Viren, andere Menschen zu infizieren, erben ihre Nachkommen diese Tippfehler, also Mutationen, und produzieren womöglich neue. Auf diese Weise hinterlassen Sars-CoV-2 und andere Krankheitserreger eine gut nachvollziehbare Spur durch die menschliche Bevölkerung.

Mutationen geschehen laufend, sie sind der Motor der Evolution. Der Großteil ist bedeutungslos, ab und an generieren sie aber neue Eigenschaften, die sich auf das Infektionsgeschehen auswirken können. So berichten Wissenschafter in einer noch nicht begutachteten Pre-Print-Studie von 14 Mutationen im Spike-Protein von Sars-CoV-2, wovon eine – D614G – "besorgniserregend" sei, weil sie die Übertragbarkeit des Virus verbessere.

Gemächliche Mutationen

Die S-Proteine, die wie Stacheln aus der Hülle des Virus herausragen, spielen eine besondere Rolle, denn Sars-CoV-2 ist zwingend auf sie angewiesen, um in die Zelle zu gelangen. Das macht das Spike-Protein auch zu einer wichtigen Zielstruktur für Impfstoffe und Medikamente. Gelingt es, die Virusstacheln mit Antikörpern, die durch eine vorherige Impfung erzeugt wurden, zu blockieren, wäre der Weg in die Zelle versperrt.

Besagte Studie hat bereits für einige Schlagzeilen gesorgt, obwohl Experimente, die die funktionelle Bedeutung der Mutation D614G belegen, fehlen. "Wir sehen keine Anzeichen dafür, dass eine der Mutationen Sars-CoV-2 klinisch oder epidemiologisch verändert", sagt Hodcroft.

Noch zeige das Virus ohnehin keine große Vielfalt. "Es zirkuliert ja erst seit wenigen Monaten im Menschen", so Hodcroft, "im Durchschnitt unterscheiden sich zwei Proben in 15 bis 20 Basen voneinander, maximal sind es 40 Unterschiede bei knapp 30.000 Positionen."

Gemächlich im Vergleich zu Grippeviren

In anderen Worten: Das Coronavirus mutiert eher gemächlich, zumindest im Vergleich zu Grippeviren. Für die Impfstoffentwicklung ist das ermutigend, da das die Chance erhöht, dass ein zukünftiger Impfstoff lange wirksam bliebe. Entscheidend dafür ist, an welcher Stelle sich das Genom verändert, weswegen etwa das S-Protein so gezielt im Visier steht.

Der Mediziner Uğur Şahin, Vorstandsvorsitzender des Mainzer Unternehmens Biontech, das an einen Impfstoff gegen das Coronavirus forscht, zeigt sich während einer Onlinepressekonferenz des Science Media Center zuversichtlich: "Mutationen im Bereich der Spike-Proteine sind eher selten. Wir gehen davon aus, dass sich das Virus bis zur Verfügbarkeit eines Impfstoffs nicht gravierend verändern wird."

Keine Zeit für Anpassung

Für die Zukunft gibt es laut Hodcroft mehrere Szenarien: Erreicht man mithilfe einer Impfung schnell eine Herdenimmunität, hätte das Virus keine Zeit, sich anzupassen, weil es niemanden mehr infizieren könnte. "Das wäre das ideale Szenario, bei dem das Virus hoffentlich aussterben würde."

Allerdings könnte Sars-CoV-2 auch unter einen starken Selektionsdruck geraten: Sind viele Menschen durch einen Impfstoff immun, überleben nur jene Viren, die den Antikörpern entgehen, indem sie etwa eine Veränderung im S-Protein entwickeln. Beim Grippevirus verändern sich diese Oberflächenstrukturen recht häufig, weswegen jedes Jahr neuerlich geimpft werden muss.

"Wir wissen nicht, ob das ein Problem werden kann. Wir müssen dazu die Mutationen des Virus im Blick behalten", sagt Hodcroft. Großbritannien, Kanada und die USA haben bereits millionenschwere Sars-CoV-2-Genomsequenzierungsprojekte angekündigt. (Juliette Irmer, 18.5.2020)