Scott Barry Kaufman erforscht unsere Bedürfnisse. Er sieht ein Segelboot als perfekten Ersatz für die bekanntere "Bedürfnispyramide".

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Wir sind Tiere, davon kann man sich bei Feldforschungen am Frühstücksbuffet überzeugen. Jeder Mensch wird von Bedürfnissen gesteuert – das bewies der Psychologe Abraham Maslow schon Mitte des vorigen Jahrhunderts. Nach ihm ist die bekannte Bedürfnispyramide benannt: In dieser steht die Selbstverwirklichung an der Spitze, physiologische Bedürfnisse bilden das Fundament.

"Das ist keine smarte Art, menschliche Entwicklung darzustellen", sagt der amerikanische Psychologe und Bestsellerautor Scott Barry Kaufman, der zu Intelligenz, Kreativität und menschlichem Potenzial forscht. Die funktioniere eben nicht stufenweise von unten nach oben à la: Jetzt bin ich satt, jetzt kann ich mich um Beziehungen kümmern.

Segelboot statt Pyramide

Das erkannte auch Maslow gegen Ende seines Lebens, publizierte diese Erkenntnisse wegen seines Herztods aber nie. Kaufman hat nun Maslows Notizen und Tagebucheinträge aufgearbeitet und mit aktueller Wissenschaft ergänzt. Herausgekommen ist: ein Segelboot. Diese Metapher im Zentrum von Kaufmans Buch "Transcend" soll die Pyramide ersetzen.

Unten im Boot befinden sich Sicherheit, Verbundenheit und Selbstwert (im Original: security, connection und self-esteem), das Segel umfasst Erkundung, Liebe und Sinn (exploration, love und purpose). Die Kernaussage: Man muss bei aller Bootszimmerei daran denken, das Segel zu hissen. Und wer sich bewusst um all seine Bedürfnisse kümmert, wird zu einem besseren Menschen.

STANDARD: Angenommen, ich glaube jedes Wort, das Sie schreiben. Wie hilft mir das?

Kaufman: Warum muss es immer darum gehen, wie mir etwas hilft? Ich will, dass mein Buch Menschen dazu anregt, anderen zu helfen. Der Punkt ist, dass du nie dein volles Potenzial entfaltest, wenn du nicht anderen bei ihrer Entfaltung hilfst. Um die Frage zu beantworten: Das Buch hat einen Anhang voller Übungen. Diese Selbsterfahrungen helfen, mehr Gipfelerlebnisse, mehr Sinn und Berufung in deinem Leben zu haben. Ich glaube, dass das Menschen wirklich nützt.

STANDARD: Wenn man mit einer weniger edlen Motivation als Nächstenliebe an die Sache herangeht – entwickelt man sich trotzdem in dieselbe Richtung?

Kaufman: Wenn man systematisch daran arbeitet, alle Bedürfnisse zu erfüllen, dann glaube ich, dass das Beste im Menschen herauskommt. Darum ist es so wichtig, dass alle Bedürfnisse im Einklang sind. Hitlers Bedürfnis nach Sinn etwa war in einem gewissen Maß gestillt – aber er war kein integrierter Mensch. Sein Bedürfnis nach Sinn war nicht auf ein gesundes Fundament von Erkundung und Liebe gestützt. Das kommt heraus, wenn ein Bedürfnis wie das nach Selbstwert und Macht alles so überstrahlt, dass man die anderen vernachlässigt.

STANDARD: Ist Ihr Buch ein Plädoyer für Balance?

Kaufman: Ja, ich habe auch eine Übung zum Erkennen von einseitigen neurotischen Trends. Es muss nicht alles in perfekter Balance sein, aber nichts darf so groß werden, dass es das System kapert. Der Psychologe Rollo May hat das den Daimon genannt. Jeder hat einen Daimon in sich: etwas, das die Macht hat, das ganze Selbst zu übernehmen. Manchmal kann diese Macht zu großartiger Kreativität und Humanität führen – manchmal aber zur Zerstörung von uns und anderen.

STANDARD: Haben Sie eine Lieblingsübung, die Sie selbst immer wieder machen?

Kaufman: Ja, die Schlusssteinübung: Akzeptiere dein ganzes Selbst. Ich habe einiges an mir noch nicht akzeptiert. Ich versuche, darüber zu meditieren und mir Selbstmitgefühl zu vermitteln. Wenn ein Freund damit zu mir käme, würde ich sagen: Mach dir keine Gedanken! Warum fällt es so viel schwerer, uns selbst zu sagen, dass wir okay sind? Ist aber so.

STANDARD: Warum setzen wir für uns selbst höhere Standards als für andere?

Kaufman: Wir sind soziale Tiere. Unser Selbstwert basiert darauf, wie uns andere sehen und wie kompetent wir sind. Durch unsere Evolution haben wir große Motivation, selbstkritisch und hart zu uns zu sein, sodass wir korrigierend eingreifen können. Vieles, das wir entwickelt haben, kann uns wahnsinnig machen – zum Beispiel der ständige Wunsch nach Sex oder Schokolade. Unsere Gene ziehen uns in diese Richtung, weil sie sich verbreiten wollen. Sie kümmern sich nicht sehr um ihren Wirt.

STANDARD: Unser Leben ist ein Kampf zwischen uns und dem, was unsere Gene wollen?

Kaufman: Ja, und deshalb bekämpft man es nicht – man integriert es. Wenn Sie einen sehr ungewöhnlichen Lebensstil wollen: Warum dagegen kämpfen? Warum nicht andere finden, die diesen Lebensstil teilen, und einvernehmlich das Leben leben, das man will?

STANDARD: Wissen Menschen denn genau, was sie wollen? In dieser Welt, in der Werbungen und unsere sozialen Kreise uns täglich sagen, was wir wollen sollen?

Kaufman: Menschen sind sehr von sozialem Druck beeinflusst. Ein Teil der Selbstverwirklichung ist, seinen Gefühlen treu zu bleiben. Den wirklichen, nicht dem, was andere meinen, das wir fühlen sollten. Das ist schwierig, aber das ist Teil des Öffnens des Segels.

STANDARD: Aber wie wissen wir, ob wir eine Veränderung selbst wollen oder ob uns nur die Gesellschaft dazu drängt?

Kaufman: Weil wir soziale Tiere sind, kann man das nicht immer trennen. Es ist okay, sich für Dinge zu interessieren, die die Gesellschaft von uns fordert. Ich will nicht darauf herumreiten, aber der Schlüssel ist wieder: Integration. Du musst etwas Einzigartiges in dir finden, das der Welt und dir selbst Freude bringt, wenn du es verwirklichst. Du weißt selbst, was dir Freude macht! Teil des Prozesses ist, zu lernen, dir zu vertrauen.

STANDARD: Ist volle Selbstverwirklichung nicht ein Privileg für Menschen, die im richtigen Land und zur richtigen Zeit geboren sind?

Kaufman: Starker Mangel an tieferen Bedürfnissen beeinflusst unsere Fähigkeit zur Selbstverwirklichung sehr. Zum Beispiel haben unberechenbare Umgebungen starken Einfluss auf unser Gehirn und Denken. Die Bedürfnishierarchie betont, wie wichtig ein sicheres Boot ist, um das Segel erst öffnen zu können. Das ist aber kein Entweder-oder. Wir können an mehreren Bedürfnissen gleichzeitig arbeiten. Viktor Frankl hat gezeigt, dass man sich sogar unter schrecklichsten Umständen für Wachstum entscheiden kann.

STANDARD: Hatten Sie Freude dabei, das Buch zu schreiben? Ich nehme an, Ihr Bedürfnis nach Sinn ist bestens versorgt.

Kaufman: Kann ich persönlich sein?

STANDARD: Nur zu.

Kaufman: Das Coronavirus hat meine Integration aus der Bahn geworfen. Mein Bedürfnis nach Sinn ist gestillt – aber mein Bedürfnis nach Verbundenheit nicht. Ich bin sehr einsam, ein perfektes Beispiel für meine eigenen Themen. Ich sehe das als eine temporäre Situation, aber es ist schwierig, zwei Monate niemanden umarmt zu haben. Ich will einfach jemanden umarmen.

STANDARD: Sind Sie sicher, dass Sie hier zitiert werden wollen?

Kaufman: Ja, klar. Ich trage mein Herz auf der Zunge.

STANDARD: Verwundbarkeit ... das ist für mich schwierig.

Kaufman: Es ist wichtig! Ich predige das.

STANDARD: Obwohl man es nie bereut, ist es beim nächsten Mal trotzdem wieder schwierig.

Kaufman: Aber so ist es, wenn man sein Segel öffnet. Wenn du jemandem gestehst, dass du einsam bist, findet der eine Verbindung zu dir. Er findet einen Teil seiner eigenen Menschlichkeit, der mit deiner Menschlichkeit in Einklang ist. Du veränderst diese Person, diese Person verändert dich. Ich bin Zenbuddhist: Ich glaube, dass das Leben Wachstum ist – daran kannst du nichts ändern. Du kannst dich dagegen sträuben und Angst haben, oder du akzeptierst es und versuchst, in eine möglichst gesunde Richtung zu wachsen. (Interview: Martin Schauhuber, 13.5.2020)