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Seekuh-Getümmel im warmen Wasser nahe dem Crystal-River-Atomkraftwerk in Florida. Dieses wurde mittlerweile stillgelegt, allerdings gibt es vor Ort auch noch einige Kraftwerke, die mit fossilen Brennstoffen betrieben werden.
Foto: REUTERS/Carlos Barria

Kraftwerke sind normalerweise nicht die Hauptanlaufstellen für Öko-Tourismus, aber in Florida haben sich einige von ihnen zu den reinsten Publikumsmagneten gemausert. Und zwar deshalb, weil sie vor den Touristen eine andere Spezies angelockt haben: Manatis, also die im Atlantik vorkommende Variante von Seekühen, tummeln sich dort in großer Zahl, wo Kohle-, Gas- oder Atomkraftwerke das erwärmte Wasser aus ihren Kühlkreisläufen ins Meer zurückleiten und damit für angenehme Badetemperaturen sorgen.

Wohlige Wärme

Dass Manatis inzwischen zu tausenden an solchen künstlichen "Hotspots" überwintern, sehen Tierschützer mit einem lachenden und einem weinenden Auge. Auf der einen Seite bieten Kraftwerke einen Ersatz für natürliche warme Quellen, in deren Nähe Seekühe früher überwinterten, ehe sie dort in historischer Zeit bis zur Ausrottung bejagt wurden. Im vergangenen halben Jahrhundert haben die Manatis die neuen Möglichkeiten für sich entdeckt, die Kraftwerke bieten – und dieses Wissen geben sie von Generation zu Generation weiter.

Andererseits werden die Tiere dadurch von der winterlichen Migration nach Süden abgehalten, wo es verlässlich warm ist. Bei Kraftwerken weiß man hingegen nie, wie lange sie in Betrieb bleiben. Noch gibt es in den USA keine übergreifende Strategie, aber es ist schon mehrfach vorgeschlagen worden, veraltete Kraftwerke ausschließlich den Seekühen zuliebe nur etappenweise runterzufahren. So würden die Tiere langsam "entwöhnt", fänden den Standort immer unattraktiver und blieben allmählich aus. Eine abrupte Abschaltung brächte die Gefahr mit sich, dass die Seekühe ihrer neuen Tradition entsprechend im Winter eintrudeln und dann dort verenden.

Das Atomkraftwerk von Takahama schuf ein neues Ökosystem, machte es mit seiner Abschaltung kalt und baut es nun langsam wieder auf.
Foto: APA/AFP/JIJI PRESS

Von einem ähnlichen Effekt im Japanischen Meer berichtet der Meeresbiologe Reiji Masuda von der Universität Kyoto. Seit 2004 untersuchte er die marinen Ökosysteme an drei Stellen nahe der Otomi-Halbinsel in der Präfektur Fukui. Eine davon unterschied sich deutlich von den beiden anderen – nämlich diejenige, wo seit 1974 das Atomkraftwerk Takahama steht. Das hielt die Wassertemperaturen auch im Winter auf 13,6 Grad Celsius – ausreichend für eine ökologische Umwälzung.

In den 2000ern war der Artenreichtum dort größer als an den beiden Vergleichsstellen. Das war vor allem einer Reihe tropischer Fischarten wie etwa Riffbarschen geschuldet, die man auf dem 35. Breitengrad normalerweise nicht antreffen würde. Auch eine tropische Spezies von Diadem-Seeigeln hatte sich im Takahama-Hotspot ausgebreitet – und das mangels Fressfeinden in einem Ausmaß, dass die Pflanzenwelt stark darunter zu leiden hatte. Das Paradies hatte also auch seine Schattenseiten.

Und es stand auf tönernen Füßen: Nach der Reaktorkatastrophe von Fukushima im Jahr 2011 schaltete Japan fast alle seine Atomkraftwerke vorübergehend ab, auch Takahama war betroffen. Die Folge: Die Meerestemperatur nahe dem Kraftwerk sackte um volle drei Grad ab, es kam zu einem Massensterben. Masuda betont, wie ungewöhnlich der Anblick eines toten Fischs ist, geschweige denn ganzer Massen davon: Normalerweise gehe der Tod in einem solchen Ökosystem mit dem sofortigen Gefressenwerden einher. All die toten Fische und Seeigel, die bei Tauchgängen im Februar 2012 gesichtet wurden, waren das klare Ergebnis einer Umweltkatastrophe.

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Riffbarsche über einem natürlich gewachsenen Korallenriff: Ein solcher Lebensraum braucht Zeit, um sich aufbauen zu können.
Foto: AP Photo/Toppx2 WWF-Philippines

Laut dem Forscher kann man aus dem Aufstieg und Fall des Fischparadieses gleich mehrere Lehren ziehen. Etwa die, dass es in gemäßigten Breiten offenbar nur einer geringen Erwärmung bedarf, um ein Kaltwasser- in ein Warmwasserökosystem umschwenken zu lassen. Die Wintertemperaturen an den beiden Vergleichsstellen lagen bei 12,3 und 11,7 Grad, also nicht viel niedriger als im Raum Takahama mit seinen 13,6 Grad. Dennoch hatte dieser kleine Unterschied ausgereicht, dass sie keinen Wandel vollzogen. Es gibt also Schwellenwerte, was im Zeitalter des Klimawandels von großer Bedeutung ist.

Eine weitere Erkenntnis ist die, dass ein Ökosystem nicht einfach durch das "nächstwärmere", wie es an einem anderen Ort bereits besteht, ersetzt wird. Es braucht lange Zeit, bis so viele Arten zugezogen sind, dass sich ein stabiles Gleichgewicht bilden kann. Der Takahama-Hotspot hatte noch zu keiner solchen Balance gefunden, wie die Invasion der giftigen Seeigel zeigte. Schlüsselspezies wie Raubfische oder Korallen fehlten auch Jahrzehnte nach der Inbetriebnahme des Kraftwerks noch.

Das Ergebnis war ein fragiles Ökosystem, das der ersten Veränderung – also der Wiederabkühlung – auch prompt zum Opfer fiel. In einem normalen tropischen Riff wäre der Artenreichtum an Fischen und Seeigeln wesentlich höher als im Takahama-Hotspot zu seinen besten Zeiten, sagt Matsuda. Das würde die Chance erhöhen, dass einige Arten davon widerstandsfähig genug sind, sich den neuen Bedingungen anzupassen. Die tropischen Kolonisten dieser kurzzeitig erwärmten Region waren dazu nicht in der Lage. Nach ihrem Verschwinden zog binnen zweier Monate schon wieder die normale Flora und Fauna aus den umliegenden Meeresregionen nach.

Der Kreis schließt sich

Und heute? 2017 wurde das Atomkraftwerk von Takahama erneut in Betrieb genommen, und alles hat wieder von vorne begonnen. Das abgeleitete Wasser erwärmt wieder das Meer, und zaghaft lassen sich auch bereits die ersten tropischen Gäste blicken. Das ungeplante ökologische Experiment geht in die nächste Runde – Reiji Masuda wird es weiterhin genau im Auge behalten. (jdo, 17. 4. 2020)