Der Witz steckt im Detail seiner Poesie, er zieht auch die Bibel zu Rate: István Kemény, Dichter aus Érdliget.

Foto: Sándor Szabó

Über die Rolle des Dichters in der Welt der Reklame hat der Ungar István Kemény, ein Kind des sogenannten "Gulasch"-Kommunismus, frühzeitig Auskunft gegeben. Lyrik sei, so Kemény in einem Vortrag (2007), nichts anderes als "das Berichten vom Gesang der Sirenen". Um ihrer Lockung zu widerstehen – und ihren Wohllaut dennoch nicht entbehren zu müssen –, ließ Odysseus sich von seinen Gefährten an den Mastbaum binden. Die Ruderer hatten Wachs in den Ohren: Sicher ist sicher.

Kemény, wichtigster Proponent der nach 1989 hervorgetretenen Dichter, schlägt eine Umkehrung der Versuchsanordnung vor. Er selbst sei es, der sich das Wachs in die Ohren stopft.

Die anderen alle würden an die Ruderbänke gekettet: "Ich, der findige Odysseus, werde euch zusehen und mir Notizen machen." Und: "Ich werde euer Dichter sein, nur andersherum." Die wahren Verursacher aller Umkehrungen, der politischen, moralischen wie ökonomischen, haben längst in den Budapester Regierungspalästen Platz genommen. Ihnen pfeift Kemeny (58), ein Postmodernist mit abgründigem Humor, ein Extremes Liedchen nach: "Du malst einen Faschisten an die Wand, (...) / Ein wenig ähnelt er mir, / obwohl ich gar kein Faschist bin."

Famoser Schwerpunkt

Was bleibt, wenn man in den postkommunistischen Gesellschaften Geschichtsweglegung betreibt, davon handelt u.a. der famose Kemény-Schwerpunkt im aktuellen "Schreibheft" (Nr. 94). Noch immer sind erstaunlich wenige Werke dieses ebenso beredten wie subversiven Dichters zufriedenstellend ins Deutsche übersetzt. Der Titel des rund 60-seitigen Schreibheft-Dossiers könnte übrigens von Kraftwerk stammen und lautet "Rückspiegelsaal".

István Kemény hat im ungarischen Haus der Geschichte die Fenster sperrangelweit aufgestoßen. In seiner Poesie hält er an einem Modell der Spiralbewegung fest. Nichts wird verurteilt, nichts überhöht: Der korrupte Sozialismus der Spätzeit muss lediglich aus den Gliedern geschüttelt werden. Die Poesie schmilzt das Blech der auf Ungarn gemünzten Rede in geschmeidigen Fließbewegungen um. Keménys Dichtung ist, wie Übersetzerin Timea Tankó anmerkt, ihrem Wesen nach "fluvial".

Figuren wie der biblische Brudermörder Kain kehren als Helden langer Erzählgedichte wieder. In die Bruchbuden des Sozialismus – Kains Gärten umschließen sie – ziehen neue, vielfach völlig unbedarfte Bewohner ein. Ihnen folgt auf leisen Samtpfoten, verkleidet als "Katze", die Phrase, spaziert "gemächlich durch die neue Wohnung und / legt sich auf den weichsten Platz: / Irgendwo hat ja jeder recht."

Längst haben Postmodernisten wie Kemény die biblische Überlieferung für sich entdeckt. Bereits der jüdisch-ungarische Szilárd Borbély (er setzte 2014 seinem Leben 50-jährig ein Ende) übertrug die Erfahrungen mit zwei Totalitarismen, dem faschistischen und dem kommunistischen, in eine Poesie der christlich-judaischen Gedankenführung. Was den einen die Wiederauferstehung zu sein dünkt, das mutet bei spekulativen Geistern wie Borbély wie die Negation der Negation an: "Wenn Christus sich auf die Erde verirrt, / dann wird im Grab kein Leben mehr sein." So steht es im heuer posthum erschienenen Borbély-Gedichtband "Berlin Hamlet" (Suhrkamp).

Borbély, selbst von einem schrecklichen Verbrechen im familiären Umkreis betroffen, versetzte sich selbst wiederholt in die Rolle Franz Kafkas. Geschichte ist wesentlich eine solche der Opfer. Indem die Regime der Gewalt gemäß zyklischer Logik wiederkehren, müssen die Dichter – nicht nur diejenigen in Ungarn – die Gespenster bannen. Am verlässlichsten geschieht das, indem man sich der Doppelgestalt jeder Form von Vergewisserung besinnt. Wiederholung und Erinnerung sind womöglich dieselbe Bewegung, nur in entgegengesetzter Richtung.

Post nach Brüssel

Viktor Orbáns Ungarn erscheint als schwer zu bannende Gestalt. Im "Rückspiegelsaal" der wichtigen magyarischen Dichter findet sich das Gespenst verklausuliert wieder. Es blieb zuletzt dem in Berlin lebenden Übersetzer Lacy Kornitzer vorbehalten, einen Brief an EU-Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen aufzusetzen ("Frau Chamberleyen").

Geradezu wutschäumend beklagt Kornitzer die europäische Duldungsstarre gegenüber dem Budapester Autokraten. Sie sei milliardenschwer. Die "Barbarei" würde von Europa "auf Händen getragen". Zeit vielleicht für István Keménys alarmierendes Gedicht "Das Aufwecken": "Weck den Schlafenden! Weck ihn auf! / Wenn er wach wird, weck ihn auf. / (...) Weck ihn noch mal, und dann wieder." (Ronald Pohl, 14.5.2020)