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2018 veröffentlichte Tom Hillenbrand mit "Hologrammatica" den seltenen Fall eines SF-Krimis, der beide Wortbestandteile ernst nahm. Soll heißen: Die Zukunftstechnologie gab nicht einfach nur eine exotische Kulisse ab, vor der sich dann ein stinknormaler Kriminalfall abspielte, sondern Fall und Welt waren untrennbar miteinander verbunden. Auch wenn in dieser Welt ironischerweise Kulissen eine zentrale Rolle spielen: Behübschende holografische Projektionen werden darin nämlich über so ziemlich alles und jeden drübergelegt.

Weit mehr als nur Oberfläche

Den neuen Roman "Qube" könnte man theoretisch auch ohne Kenntnis des Vorgängerbands lesen. Ich würde aber davon abraten, denn wir haben es hier mit einer reich ausgestalteten Zukunftswelt zu tun. Zur allgegenwärtigen Hologrammtechnologie kommt etwa die Möglichkeit, sein Bewusstsein in einen Quantencomputer hochzuladen und diesen anstelle des organischen Gehirns im Schädel zu tragen. Menschen, die davon Gebrauch gemacht haben, werden Quants genannt und haben ihren Handlungsspielraum beträchtlich erweitert. Unter anderem können sie vorübergehend in einen anderen Körper wechseln, wenn dieser gleichermaßen ausgerüstet ist.

Eine wichtige Rolle spielt auch der weit vorangeschrittene Klimawandel. Um den zu stoppen, wurde einst die Künstliche Intelligenz Æther geschaffen. Doch Æthers Lösungskonzepte wären zur Biosphäre viel freundlicher gewesen als zur Menschheit, also hat man die KI notgedrungen wieder abgeschaltet bzw. isoliert. Wie die Geschehnisse in "Hologrammatica" gezeigt haben, ist es allerdings nicht so leicht, eine überragende Intelligenz aus dem Weg zu räumen. Æther schmiedet Langzeitpläne, die für geringere Geister undurchsichtig bleiben – ganz wie im Modell der gestuften Intelligenz, das Zack Jordan im vergangenen Monat in "The Last Human" vorgestellt hat. Auch bei Hillenbrand ist die IQ-Kluft handlungsbestimmend (und ergibt nebenher ein schönes Krimi-Rätsel, nur eben auf globaler statt individueller Ebene).

Weit verbreitetes Asteroiden-Mining und der Umstand, dass die einstigen Nationalstaaten großräumigen Föderativen gewichen sind, runden das Bild ab. Alle genannten Faktoren sind im Roman dauerpräsent und werden uns bei passender Gelegenheit immer wieder in Erinnerung gerufen. Bleiben noch zwei besonders verheißungsvolle Elemente: Auf Kreta ragt eine Lichtsäule nicht-irdischen Ursprungs in den Himmel wie ein Monument der Rätselhaftigkeit. Und die inzwischen aufgelöste NASA hat als letztes Hurra eine Sonde zu Barnards Stern geschickt. Da sich Hillenbrand in den "Hologrammatica"-Romanen als Meister der Konstruktion zeigt, können wir davon ausgehen, dass auch diese Faktoren irgendwann eine Rolle spielen werden. Spätestens in einem dritten Band, und ich hoffe doch sehr, dass es einen solchen geben wird!

Zum Plot

Ein paar Jahre nach den Geschehnissen in Band 1 – wir schreiben inzwischen das Jahr 2091 – bekommen wir es in "Qube" mit einer neuen Hauptfigur zu tun. Die aus Band 1, der Ermittler Galahad Singh, ist nämlich inzwischen ... verschwunden (ein weiterer Hinweis darauf, dass noch ein dritter Band folgen wird). An seine Stelle tritt nun Commander Fran Bittner, die bereits in "Hologrammatica" eine Nebenrolle hatte. Bittner arbeitet für die UNANPAI, die UNO-Behörde für den Kampf gegen die Ausbreitung von KIs. Und sie ist ein Quant. Da Bittner beim Wechseln zwischen verschiedenen Leihkörpern laufend zwischen männlichen und weiblichen switcht, können wir uns ihres natürlichen Geschlechts übrigens gar nicht so sicher sein. Je nach aktueller Inkarnation wechselt Hillenbrand konsequent das Pronomen.

Bittner übernimmt die Ermittlungen, nachdem ein Attentat auf einen kritischen Journalisten verübt wurde. Das scheint mit ihrem eigentlichen Aufgabengebiet zunächst gar nichts zu tun zu haben. Doch je weiter Bittner in den Fall vordringt, desto stärker kommen Querverbindungen zu Æther zutage. Ist die KI etwa immer noch aktiv – und wenn ja, was führt sie jetzt wieder im Schilde?

Einen menschlichen Antagonisten gibt aber auch, und es ist einer der Prinzen des Planeten: nämlich der Billionär Clifford Torus, der mit rabiaten Methoden nach der Unsterblichkeit strebt. Theoretisch könnte der Wechsel von Körper zu Körper ja zu einer unbegrenzten Lebensspanne führen. Da ist allerdings das sogenannte Descartes-Problem vor: Aus irgendeinem Grund können Geist und Stammkörper nur für begrenzte Zeit voneinander getrennt bleiben. Torus versucht mit allen Mitteln, das zu ändern.

In anderen Welten

Zwischen diesen Kernplot schieben sich immer wieder wie Fremdkörper wirkende Kapitel um den Dorfjungen Franek. Der lebt in einer fantasyesk anmutenden Welt, die offenbar von einem Zauberer beherrscht wird. Dieser Gottgleiche wählt Franek aus, um ihn als Botschafter ins Reich des benachbarten Magus zu schicken. Man mag zwar erahnen, welche Konsequenzen Franeks Queste haben wird. Die eigentlich spannende Frage ist aber, wie diese Fantasywelt mit der der übrigen Hauptfiguren in Zusammenhang steht. Ich hatte spontan zwei, drei SF-typische Antworten parat und musste – bzw. durfte – schließlich überrascht feststellen, dass Hillenbrand eine Möglichkeit gefunden hat, die mir nicht eingefallen ist. Sehr schön!

Als letzte Hauptfigur ist dann noch Persia Peach im Spiel, und zwar buchstäblich. Sie ist eine professionelle Gamerin, die sich auf sogenannte Sweats spezialisiert hat, also Spiele mit echtem Körpereinsatz, die in einer holografisch maskierten Arena stattfinden. Gigantisch aufgemotzte Paintball-Turniere, um es abzukürzen. Von Belang ist sie erst im letzten Drittel des Romans, da es der Autor wollte, dass der große Showdown in einer solchen Spielwelt stattfindet. Bis dahin sind die Kapitel um Peach eigentlich leere Kilometer.

Meisterlich durchgeplant

Als Nicht-Rollenspieler habe ich es schon immer mit besonderem Desinteresse gelesen, wenn sich Romanfiguren kapitellang durch Spielwelten kämpfen. Trotz Hillenbrands hochdynamischer Schreibe habe ich entsprechende Passagen also auch in "Qube" rasch querzulesen begonnen. Umso witziger fand ich es, als sich meine Gefühle plötzlich im Text wiederfanden: "Wie lange", fragte Clifford die neben ihm sitzende Ana Amaqjuaq, "dauert die Scheiße noch?" Die Spieler waren ewig durch einen Irrgarten gestolpert, was sich in etwa so spannend gestaltet hatte wie die Amateur-WM im Curling. Der Autor hat eine entsprechende Reaktion also bereits antizipiert. (Die natürlich ohnehin vom individuellen Geschmack des Lesers abhängt; für leidenschaftliche Gamer mag dieser Romanteil ein echtes Highlight sein.)

Und es kam sogar noch besser. Persia Peach von Beginn weg als eine der Hauptfiguren aufzubauen, empfand ich als Fehler, weil sie im Geschehen letztlich nur eine punktuelle Funktion zu erfüllen hat. Und schwupps kommt nach Vollzug eine Stelle, an der sie als ehrlich gesagt völlig unwichtig abgetan wird – ihrer tatsächlichen Rolle im Roman entsprechend. Es war also gar kein Fehler; die Unwichtigkeit einer scheinbar zentralen Protagonistin war bloß ein weiteres Detail in einem von vorne bis hinten durchdachten Plan, wie ihn nur ein Meister der Konzeption entwerfen kann. Mein Verdacht erhärtet sich: Tom Hillenbrand ist Æther!