Die beiden Damen nahmen den später zurückgenommenen Aufruf zur Beflaggung sehr ernst. (Vom Besuch des Kanzlers im Kleinwalsertal gibt es keine anderen Agenturbilder, weshalb DER STANDARD in diesem Fall auf Fotos der Presseabteilung des Bundeskanzleramtes zurückgegriffen hat.)

Foto: BUNDESKANZLERAMT/DRAGAN TATIC

Bundeskanzler Sebastian Kurz (ÖVP) wandelte am Mittwoch bei seinem ersten Termin außerhalb von Wien nach zehn Wochen auf den Spuren von Bruno Kreisky. Denn der SPÖ-Kanzler war der bisher letzte Regierungschef, der sich 1973 vom Ballhausplatz aus auf den Weg ins Kleinwalsertal gemacht hatte. 47 Jahre später bot die Corona-Krise einen Anlass für den Besuch des amtierenden Bundeskanzlers.

Dieser sorgte dann aber aus ganz anderen Gründen für mächtiges Aufsehen. Wenngleich etwa die Gemeinde Mittelberg schon untertags per Facebook verkündete, dass "eine öffentliche Veranstaltung nicht möglich" sei und es daher "keine Gelegenheit für einen persönlichen Kontakt mit der Talbevölkerung" gebe, erschienen dennoch viele Menschen für den Kanzlerbesuch beim Vorarlberger Landeshauptmann Markus Wallner (ÖVP).

Offenbar waren die Menschen im Vorfeld von der Gemeinde auf Facebook aufgefordert worden, anlässlich des hohen Besuchs die Häuserwände zu beflaggen und den Kanzler mit Bekundungen zu begrüßen. "Die Verantwortlichen freuen sich über eine Beflaggung der Häuserwände und Bekundungen an der Walserstraße", lautete die Aufforderung. Später wurde der Satz gelöscht.

Ansprache des Kanzlers

Ein paar Kurz-Fans ließen sich davon aber nicht beirren und kamen prompt mit Fahnen. Mund-Nasen-Schutz trugen dabei beide Politiker nicht, ebenso wenig viele der Besucher. Journalisten berichteten, dass Kurz offenbar mehrmals Abstandhalten einforderte, was nicht wirklich zu gelingen schien. Warum es trotz nichtgeplanter öffentlicher Auftritte eine Ansprache des Kanzlers gab, ist noch unklar.

Die Neos wollen jedenfalls eine Anzeige einbringen. Das schrieb zumindest der Nationalratsabgeordnete und Neos-Wirtschaftssprecher Sepp Schellhorn auf Twitter. "Walten Sie Ihres Amtes", rief er den Innenminister auf. Den genauen Grund für die Anzeige nannte er nicht – vermutlich könnte es sich um eine Verletzung der Ein-Meter-Abstandspflicht durch den Kanzler zu Menschen, mit denen man nicht im selben Haushalt lebt, handeln. Es könnte aber auch allgemeiner um das Versammlungsverbot gehen. Laut Covid-19-Lockerungsverordnung sind Veranstaltungen mit mehr als zehn Personen untersagt.

Neos-Chefin Beate Meinl-Reisinger sagte, dass eine Anzeige geprüft werde. Es könne nicht sein, dass viele Menschen in den letzten Wochen 500 Euro zahlen mussten, weil sie auf einer Parkbank oder zu viert im Auto gesessen sind, und der Kanzler die Regeln nicht einhalte.

Es habe sich nicht um eine spontane Menschenansammlung gehandelt, denn im Vorfeld sei zu Beflaggungen und Bekundungen aufgerufen und eine Bühne aufgebaut worden. Sie fordere von Kurz eine Entschuldigung für die Vorkommnisse. "Was man gestern gesehen hat, entbehrt jeglicher Ernsthaftigkeit und jeglichen Verantwortungsbewusstseins", so Meinl-Reisinger.

Kurz: "Teilweise der Mindestabstand leider nicht eingehalten"

Angesichts einiger Kritik und der von den Neos angekündigten Anzeige erneuerte das Bundeskanzleramt den Appell, den Sicherheitsabstand einzuhalten. Obwohl man sich in der Organisation im Vorfeld und beim Besuch direkt darum bemüht habe, sei von Bewohnern und Medienvertretern "teilweise der Mindestabstand leider nicht eingehalten" worden. Gemeint sind wohl die Aufforderungen des Bundeskanzlers, die Journalisten mögen doch "bitte auseinandergehen".

"Man weiß, wie schwer es ist, den Abstand einzuhalten, vor allem wenn die Infektionszahlen zurückgehen", hieß es in einer Stellungnahme. Trotzdem wies das Kanzleramt nochmals darauf hin, wie wichtig es sei, weiterhin die Regelungen zu befolgen: "Egal ob man den Bundeskanzler oder Freunde auf der Straße trifft: Der Abstand ist einzuhalten." Mit der Maske halte es Kurz in den Bundesländern nicht anders als in Wien: Bei Bewegungen in geschlossenen Räume trage er Mund-Nasen-Schutz, im Freien nicht.

Kurz musste sich für den Besuch jedenfalls eine Transitgenehmigung im bayerischen Innenministerium besorgen, um überhaupt anreisen zu können. Denn das Kleinwalsertal mit seinen rund 5.000 Einwohnern gehört zwar zu Vorarlberg, ist aber auf dem Straßenweg nur über Deutschland zu erreichen – und wegen der Corona-Pandemie sind die Grenzen noch geschlossen.

Grenzöffnungen

Aber die Öffnung der Grenzen ist nun ja in Sichtweite – und darüber wollte der Bundeskanzler mit den Verantwortlichen vor Ort sprechen: "Ich freue mich, dass wir mit guten Nachrichten im Gepäck kommen", sagte Kurz und erklärte: "Mich freut, dass wir einige Erleichterungen zustande bringen konnten. Die wirklich gute Nachricht: Mit 15. Juni sollen die Grenzen zu Deutschland und der Schweiz völlig fallen." Dazu müssten die Länder aber auch ihre Hausaufgaben machen und die Ansteckungsraten niedrig halten.

"Es herrschte im Kleinwalsertal von Anfang an eine besondere Situation. Es war eine Quarantäne aus geografischen Gründen", sagte Landeshauptmann Wallner. Es sei ein Signal, "gemeinsam hier zu stehen und zu sagen: Wir wollen offene Grenzen!"

Der Kleinwalsertaler Bürgermeister Andi Haid bedankte sich für die "besondere Ehre und Freude", Kurz empfangen zu dürfen. "Wir hatten eine schwere Zeit und waren de facto sieben Wochen in Quarantäne", sagte Haid. Die neue Situation mache Hoffnung. Nun gebe es wieder eine Perspektive für den Tourismus, das einzige Standbein des Kleinwalsertals. "Ohne deutsche Gäste erleiden wir einen wirtschaftlichen Totalschaden", so der Bürgermeister. Er hoffte, dass Verhandlungen mit Deutschland über die Quarantänebestimmungen noch vor der Grenzöffnung weitere Erleichterungen bringen werden.

Häme wegen Beflaggung

Nach der Begrüßung bei der Walserschanz – der Grenze zwischen Deutschland und Österreich – fuhren die Politiker weiter nach Hirschegg, wo eine Arbeitssitzung mit Gemeindevertretern und Touristikern auf dem Programm stand. Am Donnerstag stand für Kurz ein Treffen mit Vorarlberger Unternehmern an.

Für ironische Kommentare in den sozialen Medien sorgte bereits am Nachmittag der Facebook-Aufruf der Gemeinde Mittelberg, wonach man sich über beflaggte Häuser und Beifallsbekundungen freue. Später präzisierte die Gemeinde, die Idee der Beflaggung sei als Zeichen der Wertschätzung für die Bemühungen um die wichtige Grenzöffnung zu verstehen gewesen. "Uns ist es wichtig zu betonen, dass der Bund und das Land darin nicht eingebunden waren. Wir nehmen aber zur Kenntnis, dass diese Geste von manchen Personen falsch aufgefasst wurde, und werden auf diese nun verzichten." (faso, nim, red, APA, 13.5.2020)