Es war der erste Lichtblick inmitten dieser völlig aberwitzigen Zeit der neuen Verhaltensregeln, das beginnende So-tun-als-ob-das-alles-auf-Dauer-zu-ertragen-ist war längst offiziell abgelöst durch mal leisere, mal lautere Mutlosigkeit. Eh, die Kinder im Videochat, die Erwachsenen im selben "Raum" abends beim Bier, Geschichten von Kurzarbeit austauschend und von Heimschulung und vom "Funktionieren" und vom "Geht eh noch" bis hin zum "Ich kann so nicht mehr". Die, die allein waren, wollten endlich mit jemandem wohin. Die, die mit Familie lebten, wollten endlich allein wohin.

In ein anderes Land. In ein Beisl. Oder endlich, endlich wieder in ein Kaffeehaus. Und da stand es, auf Facebook gepostet von einem der Wiener Kaffeehäuser meines Vertrauens, und mir wurde warm ums Herz ob der Gewissheit: "Wir sehen uns am 15. Mai!"

Der Lockdown endet, die Kaffeehäuser machen wieder auf. Sie sind Schauplatz für vieles, ein Ort, den man sich zu eigen machen kann.
Foto: Heribert Corn/www.corn.at

Eine Herausforderung

Warum das Kaffeehaus auch metaphorisch so gut taugt für diese Zeit? Es steht sinnbildlich für exakt die Distanz, die man hierzulande überlebensnotwendig braucht, kombiniert mit der Nähe, die man aushält (und auch braucht, aber pscht!). Dinge also, die uns in ihren beiden Extremen in den letzten Monaten enorm auf die Probe gestellt haben. Im Kaffeehaus gibt es viele Menschen, ja, aber man kann sie ignorieren. Gleichzeitig galt zumindest für mich: Der Gang in ein Kaffeehaus, in dem man zuvor noch nie war, bleibt nicht umsonst bis weit ins Erwachsenenleben eine gewisse Herausforderung.

Dabei hilft kein finsterer Beislcharme, keine Bar samt Budl, an die man sich der Einfachheit halber stellen kann. Inzwischen denke ich: Wer ein Kaffeehaus navigieren kann, samt Bestellen und Zahlen und dem dazugehörigen Spiel von Aufmerksamkeit, ist womöglich auch bereit für die erste Gehaltsverhandlung. Ich bin mir auch sicher, dass jemand schon mathematische Formeln erstellt hat, wie man sich so hinsetzen kann, dass alle Leute möglichst weit auseinander sitzen, man allein ist, aber trotzdem in Gesellschaft. Nur die Besucherinnen und Besucher brauchen diese Formel alle nicht. Sie können das ganz intuitiv.

Kulisse für vieles

Was tut man also in einem Kaffeehaus? Ich halte es ja immer noch für eine gewisse Behauptung, dass man hier ist, um zu arbeiten. Sich besprechen? Ja! Pläne schmieden? Unbedingt! Interviews machen mit Kaffeemaschinengepfauche ins Diktafon! Aber ja! Gut, Zeitung lesen, die Übersicht bewahren, menschlich und auch medial. Meine Mutter hat seinerzeit mit einem Kaffeehaus gebrochen, weil es die Zeitschrift Paris Match nicht mehr führte, sie sprach gar nicht so gut Französisch, sie las das Magazin auch nicht ständig, aber es ging ums Prinzip. Entweder große, weite Welt, aber nicht als Behauptung. Ums Prinzip geht es in Kaffeehäusern oft. Wer einmal an einem Tisch gelandet ist, für den sich servicetechnisch niemand zuständig fühlt, weiß, wovon ich spreche. Wer meinte, die Eiligkeiten des Alltags hätten hier dieselbe Bedeutung, ebenfalls. Genau deshalb allerdings funktionieren Kaffeehäuser als Schutzwall gegen im Grunde eh alles. Und als Schauplatz und Kulisse für vieles.

Man kann in einem Kaffeehaus gut konspirativ sein, zumindest wenn man dabei gesehen werden darf (oder gar will, eine Frage der Strategie). Man kann gut verliebt herumsitzen, mit der Zeitung rascheln, man kann sich aber auch gut trennen, Kaffeehäuser haben das alles schon oft gesehen und zucken bei solchen Anlässen nur müde mit den Schultern. Heilige Hallen sind sie nicht, aber selbstbestimmte. Das Kaffeehaus verleitet zu erzählerischen Sentimentalitäten, dabei ist es im Grunde das Gegenteil eines sentimentalen Orts. Es gibt sie, die Bücher voll mit Kaffeehausliteraten und Schauspielerinnen, Modistinnen und Regisseuren, vergangenen Höhepunkten und Dramen, die oft in Wiener Kaffeehäusern stattgefunden haben.

Aber Kaffeehäuser sind mehr als ein Museum für den Eintritt in Höhe einer Melange. Sie sind der Ort, den man sich selbst zu eigen machen kann. Wir wissen, in Wien adelt es mehr als ein Verdienstzeichen, wenn man den reservierten Tisch in einem Kaffeehaus bekommt (nicht, dass ich das je geschafft hätte). Der wiederum hat allerdings wenig mit Prominenz zu tun, sondern mit Gewohnheitsrecht. Gleichzeitig sind sie einem steten Wandel unterworfen, einem in Zeitlupe, aber doch. Nichts währt ewig, noch nicht einmal in Wien. Viele sind verschwunden, architektonisch entdeckt man sie doch, wie die Casa Piccola auf der Mariahilfer Straße, einst geführt vom Vater von Lina Loos, drüber das Atelier von Emilie Louise Flöge, heute befindet sich eine Schuhhandlung darin.

Riecht ein Kaffeehaus nach Kaffee?

Wenn ich mit meinen Eltern ins Kaffeehaus ging, war das immer ein denkwürdiger Moment. Ich habe es exakt im Ohr, das Geräusch der schwingenden gläsernen Flügeltüren, die man aufstößt, spüre ihr Gewicht förmlich in der Hand, höre das Gemurmle, und die Rufe beim Vorbeigehen an der Küche, das sanfte Klack-klack der Billardkugeln auf grünem Filz, habe diesen völlig einzigartigen Geruch in der Nase, den ich bis heute nicht benennen kann und der auch samt Rauchverbot noch nicht verschwunden ist, der Rauch allein kann es also nicht gewesen sein.

Riecht ein Kaffeehaus nach Kaffee? Selten. Etwas herrlich Herbes lag in der Luft, ein Geruch wie von oft benutzten Spielkarten oder wie von Regen auf heißem Pflaster, unnennbares Aroma von Wichtigkeit und großer Welt, vom Universum der Erwachsenen, beinhaltend das Versprechen, einmal selbst eine davon zu werden. Gäbe es den Geruch als Parfum, würde ich ihn sofort kaufen. Das Kaffeehaus nicht als konkreter Ort, sondern als Idee und Vorstellung, wenn man so will. Und genau damit mussten wir in den letzten Monaten auskommen.

Das Kaffeehaus verleitet zu erzählerischen Sentimentalitäten.
Foto: Getty Images/iStockphoto/SbytovaMN

Aus unerfindlichen Gründen schmeckt ein Himbeer-Soda bis heute noch anders, wenn ich es im Kaffeehaus trinke, und ich trinke es auch nur hier (können bitte alle zuerst den Sirup und dann das Soda ins Glas, bittedanke, und dürfen bitte auch Erwachsene einen Strohhalm). Es ist ein bisschen so wie mit einem Paar Frankfurter im Speisewagen.

Stets aufs Neue beglückt mich der Anblick des Stilllebens von einem kleinen Braunen auf dem Silbertablett, die runde Serviette, das Wasserglas, der silberne Löffel quer drüber, emblematisch steht es für – ja, wofür eigentlich? Für ein sortiertes Leben vielleicht, eine Form, einen Ort, der deutlich älter ist als man selbst, eine verlässliche Größe in völlig unverlässlichen Zeiten, für eine Welt ohne Störung, zumindest für die nächsten 15, 30, 45 Minuten. Eine krachende Buttersemmel und ein Ei im Glas. Ein Frühstück, das man sich nicht selbst zubereiten muss, der Himmel auf Erden.

Jedes Kaffeehaus zu seiner Zeit

Kaffeehäuser haben viele Funktionen. In das eine Kaffeehaus gehe ich, weil das Frühstück dort so gut ist. In das andere, weil man dort so schön draußen sitzen kann. In dem einen trinkt man gern im Rudel Spritzwein und winkt den Pinguinen im Garten. Im anderen ist die Bedienung so freundlich, dass man für immer bleiben möchte, sperrte es nicht um 22 Uhr zu. Das eine verlangt viel zu viel Geld, hat aber Ausblick auf Park und wichtige Pressekonferenzen. Das nächste ist bevölkert von Anwälten, die viel zu laut über ihre Kundinnen und Kunden reden, und macht ein hervorragendes Ei im Glas. Jedes Kaffeehaus zu seiner Zeit. Und überall kann man für eine kurze Zeit dazugehören, muss aber nicht.

In Letzterem war ich letzten Herbst (das Ei im Glas!). Der Herr Ober lehnte elegant und müd und leicht zerstört in der Tür, ich sah ihm lang wortlos ins Aug in der Hoffnung auf Kaffee.

Er: "Pressiert's? Wissen S', es geht um nix."

Ich nickte.

Er brachte die Bestellung.

Ich, um das Tempo eines Kaffeehauses wissend: "Darf ich gleich zahlen?"

Er: "Soi i's wieda mitnehman?"

Wir lachten. Und ich wusste, diese Stadt, ach, diese Stadt. Ohne die kann und will ich nicht. Und ohne all ihre Kaffeehäuser auch nicht. (Julia Pühringer, 14.5.2020)