Phase zwei hat begonnen. Nach dem akuten Krisenmodus, Liquiditätssicherung, Zurechtkommen mit Kurzarbeit und Homeoffice, setzen Unternehmen jetzt die nächsten Schritte: Rückkehrpläne in die Büros, Abstecken der nächsten Zukunft. Das ist nicht weniger anstrengend als die zwei Monate Ausnahmezustand davor. Und Erschöpfung kommt dazu. Bei Führungskräften und bei Geführten. Es funktioniert auch in der nächsten absehbaren Zeit nicht so wie ansonsten, wie gewohnt. Was macht jetzt gute Führung aus? Was muss Führung jetzt können?

Zu diesen Fragen hat Helga Pattart-Drexler, Leiterin der Executive Education an der Executive Academy der Wirtschafts-Uni Wien, zum Leadership-Talk geladen. Gemeinsam mit Susanna Wieseneder, Personal Councelor in dem Fachgebiet, und dem KarrierenSandard. Ohne Publikum vor Ort, dafür aber jederzeit nachseh- und nachhörbar als Webinar.

Glaubenssätze, adieu

Was lernen wir in der Führung gerade – oder haben wir schon gelernt? "Es lösen sich jetzt Glaubenssätze auf", sagt Wieseneder. Etwa jener des Präsentismus, wonach nur wirklich leistungsfähig und -bereit ist, wer auch anwesend ist. Auf Distanz, virtuell zu führen gehört für viele noch nicht ins selbstverständliche Repertoire. Oder jener Glaubenssatz, wonach nur das Perfekte tolerabel und gut genug ist: Improvisieren und ständiges Nachjustieren seien nicht nur Gebot der Stunde, es gehe ja gar nicht anders, so die Leadership-Beraterin. Dadurch entstehe ein neues Denken, Handeln, auch ein neues Fühlen.

Wiewohl, so Pattart-Drexler: Führen auf Distanz ohne all die unmittelbaren mimischen und gestischen Informationen analoger Zusammenarbeit sei nun einmal eine der größten Herausforderungen. Einig die beiden: Der Grad der Flexibilisierung erhöht sich massiv. Führungskräfte hätten sehr oft sehr große Sehnsucht nach fixen Regeln, Rezepten, replizierbaren Vorlagen – davon musste man sich verabschieden. Pattart-Drexler: "Das sind jetzt enorme Spannungsfelder. Schwarz-Weiß, Ja-Nein, das funktioniert meistens gar nicht mehr." Auszuhalten und mit einer noch einmal enorm gestiegenen Unsicherheit umgehen zu können trete an die Stelle der sicheren Schritte.

Was die beiden Expertinnen zu den jetzt gefragten Qualitäten bringt. Ja, es wird hier mehr von Qualitäten denn von den bekannten Kompetenzen gesprochen. Ambiguitätstoleranz ist für Wieseneder eine solche entscheidende Qualität. Widersprüche ertragen und nicht mit aller Kraft sofort reinen Tisch machen zu müssen. Der Intuition vertrauen, gehört für Pattart-Drexler zum Wichtigsten.

Beide haben ein System entwickelt, nach dem am Selbst Qualitäten und Fähigkeiten reflektiert und entwickelt werden können und auch das Team als Landkarte solcher Qualitäten und Kompetenzen erscheint. Die Executive Academy arbeitet dafür mit dem Periodensystem – angelehnt an die Chemie, allerdings erweitert um verschiedene Aggregatzustände. Gasförmige sind beispielsweise die Soft Skills. In den plasmaförmigen Bereichen gehören beispielsweise Mut und Offenheit. Suprafluidität steht für die Rollen, die Teammitglieder annehmen. "Sich das anzusehen und daraus jetzt Neues zu schaffen geht sogar aus der Distanz besser, man sieht mehr", wirbt Pattart-Drexler um Akzeptanz der schwierigen virtuellen Führung.

Jonglieren und Chancenintelligenz

Wieseneder hat den Ansatz des Alphabets inklusive Sonderzeichen gewählt und dazu das "Leadership Alphabet" geschrieben: 30 Kapitel, die jeweils beschreiben, wie Arbeit am Inneren im Äußeren zur Handlungsfähigkeit führt. Ihr aktueller Lieblingsbuchstabe daraus? "J wie Jonglieren." Bälle in der Luft halten, in seiner Mitte bleiben, sagt sie. Pattart-Drexler: "Und manchmal fällt einer runter, das ist so." C wie Chancenintelligenz nennt die Autorin auch als aktuellen Favoriten. Dabei geht es darum, Gelegenheiten zu erkennen – nicht auf dem äußeren Reißbrett, sondern mittels Hervorholen aus dem Unbewussten.

Und wo finden sich die Chancen? Pattart-Drexler: "Es geht auch darum, dass wir sie einander ermöglichen, einander helfen zu sehen, was offensichtlich nicht da ist." Spannende Fragen, die sich Führungskräfte täglich zu stellen haben, sagt sie und ist überzeugt, dass dieser Prozess fruchtvoll ist und Neues bringt. Es gehe ja nicht um tagtägliche Moonshots.

Positiv ist für Wieseneder die aktuelle Chance, jetzt Altes, Unpassendes, Prozesse, Verhaltensweisen über Bord zu werfen. Wann, wenn nicht jetzt? (15.5.2020)