Im Westjordanland gärt es: Am Dienstag wurde ein israelischer Soldat mit einem Stein getötet, am Montag ein fünfzehnjähriger Palästinenser mit einem Kopfschuss.

Foto: epa / Alaa Badarneh

Eine neue Regierung in Israel, die am Sonntag vereidigt werden soll und in ihrem Programm die Ausweitung der israelischen Souveränität – so die Sprachregelung – auf Teile des Westjordanlands ab Juli in Aussicht stellt: Sogar die USA, wie der in Corona-Zeiten unübliche Kurzbesuch von US-Außenminister Mike Pompeo am Mittwoch in Israel zeigte, sehen Abstimmungsbedarf – obwohl der Schritt ja auf dem "Friedensplan" der Regierung von Donald Trump basieren würde. Am Freitag werden die EU-Außenminister per Videokonferenz um eine gemeinsame Position für den Annexionsfall ringen. Es bedarf keiner prophetischen Gabe, um ein Scheitern vorherzusagen.

Zuletzt hat der Außenpolitikbeauftragte Josep Borrell mangels Konsens der EU-Mitgliedstaaten ein eigenes Statement abgegeben, in dem er "jede Annexion als ernste Verletzung des Völkerrechts" bezeichnete. Aber das sehen in der EU einige Staaten mehr, andere weniger so. Ende April stieß eine von elf europäischen Botschaftern in Jerusalem überbrachte Protestnote geradezu auf israelischen Spott, zeigte sie doch klar die Uneinigkeit auf. Es gibt eine Gruppe von EU-Staaten, für die Sanktionen gegen Israel im Bereich des Möglichen liegen, so wie auch eine Anerkennung eines palästinensischen Staates innerhalb der "Grenzen" – rechtlich waren sie das ja nicht – bis 1967. Und dann gibt es jene, die jede Aktion, die gemeinsam beschlossen werden müsste, verhindern werden.

Haaretz nennt am Donnerstag die "unerschrocken proisraelischen Länder" Ungarn, Polen und Tschechien. Zu ihnen hat sich jedoch de facto auch Österreich unter Bundeskanzler Sebastian Kurz gesellt, der in dieser Beziehung nichts tut, was Jerusalem und Washington verärgern würde. Die unverfänglichere Darstellung ist, dass Österreich zu jenen Ländern gehört, die hinter den Kulissen auf Israel einwirken wollen.

Eindeutige EU-Rechtslage

Die EU-Rechtslage, dass das Westjordanland "besetzt" ist, ist eindeutig, weswegen ja etwa die Vorteile unter dem Assoziationsabkommen zwischen der EU und Israel nicht für die jüdischen Siedlungen gelten. Eine Annexion dürfte nach geltendem EU-Recht – auch nach österreichischem übrigens – nicht anerkannt werden. Dass die EU-Israel-Beziehungen nach den Annexionen viel komplizierter werden würden, liegt auf der Hand. Aus mehreren Staaten – ziemlich deutlich war etwa Paris – kommen lautstarke Warnungen. Bei der Demarche Ende April in Jerusalem waren neben Frankreich und der EU-Delegationsleitung auch Deutschland, die Niederlande, Italien, Spanien, Schweden, Belgien, Dänemark und Finnland dabei sowie die abtrünnigen Briten.

So eindeutig, wie viele Israelis es sich gewünscht haben mögen, fiel aber auch der Besuch Pompeos nicht aus. Die New York Times bezeichnete es als "gelbes" – anstelle eines grünen – Licht, das Israel erhalten habe. Die USA befürchten unter anderem negative Konsequenzen für die Allianz mit den Arabern, die man für die Iran-Politik braucht, oder sogar eine neue Destabilisierungswelle in der Region. Eine häufige Warnung in dieser Beziehung betrifft Jordanien.

Die verbleibenden 70 Prozent

Der Pompeo-Besuch erweckte jedenfalls nicht den Eindruck, dass die USA den neuen und alten Premier Benjamin Netanjahu antreiben würden. Das könnte sich allerdings ändern, wenn Trump vor den Wahlen immer dringlicher seine evangelikale Wählerschaft mobilisieren muss. Mit Netanjahu sprach Pompeo laut eigenen Angaben jedoch über "Wege, den Friedensplan des US-Präsidenten voranzutreiben". Dazu gehören allerdings auch Gespräche mit den Palästinensern, die auf den verbleibenden 70 Prozent des Westjordanlandes etwas Staatsähnliches bekommen sollten. Das ist nichts, was der israelischen Rechten gefällt – wobei nicht zu erwarten ist, dass die Palästinenser zu Verhandlungen unter dieser Prämisse bereit sind.

Das Thema Annexion wird kontrovers diskutiert, zum Teil auch mit überraschenden Positionen aus "eindeutigen" Lagern. Im propalästinensischen Umfeld gibt es Stimmen, die die Annexion als Vereindeutigung der Lage sogar begrüßen: Mit dem Land würden ja auch Menschen annektiert, deren Rechte dann diskutiert werden müssten. Umgekehrt erregte ein Anti-Annexions-Kommentar des rechten US-Publizisten Daniel Pipes in der New York Times Aufsehen, dem nun "Verrat" vorgeworfen wird.

Pipes führt sechs Gründe an, die gegen Annexionen zum jetzigen Zeitpunkt sprächen: eine mögliche Verärgerung Trumps, sollte dieser wirklich erwarten, dass mit den Palästinensern über einen "Staat" verhandelt wird; die Verschlechterung der Beziehungen zu den Europäern und den US-Demokraten – Joe Biden hat sich ja bereits negativ geäußert; die Entfremdung der arabischen Golfstaaten und damit die Vernichtung jahrelanger diplomatischer Bemühungen; mögliche Unruhen in Jordanien und den Palästinensergebieten; die Vertiefung der Spaltung in Israel. Und, sechstens, eben auch, dass die Annexionen für Israel nicht nur das Land, sondern auch Palästinenser mit Anspruch auf die israelische Staatsbürgerschaft bringen würden. (Gudrun Harrer, 14.5.2020)