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Bei einer Begräbnisfeierlichkeit am Rand von Sankt Petersburg tragen die Totengräber Schutzausrüstung.

Foto: REUTERS/Anton Vaganov

"Das war eine Kanonade an Fake-News", schimpfte die Sprecherin des russischen Außenministeriums, Maria Sacharowa. Zwei Artikel in der "New York Times" ("NYT") und der "Financial Times" ("FT") hatten die Entrüstung der russischen Diplomatin hervorgerufen. Darin wurden die offiziellen Todeszahlen zur Corona-Epidemie infrage gestellt.

Stand Freitag hat Russland 262.843 Covid-19-Fälle landesweit registriert. Das ist in absoluten Zahlen weltweit Rang drei hinter den USA und Spanien. Bei den Opferzahlen hingegen steht Russland mit "nur" 2.418 Toten weltweit auf Rang 18. Pro Kopf sieht die Statistik für Russland sogar mit 16 Toten auf eine Million Einwohner hochgerechnet noch besser aus. Österreich beispielsweise hat 70 Opfer pro Million Einwohner zu beklagen.

Vorteilhafter Vergleich

Obwohl die Pandemie – speziell in Russland, wo die Verbreitung einen Monat später als in Westeuropa begonnen hat – längst noch nicht vorbei ist, nutzt die russische Führung die Statistik zum für sich vorteilhaften Vergleich. Das Gesundheitswesen in Russland sei wesentlich besser als das in den USA, erklärte so Duma-Chef Wjatscheslaw Wolodin. "Die Sterblichkeit ist um das 7,6-Fache geringer. Das müssen wir anerkennen, Freunde, und dafür den Ärzten und dem Präsidenten Danke sagen", sagte Wolodin.

Das Problem: Die Statistik ist zweifelhaft, recherchierten die Journalisten von "FT" und "NYT". Offiziell sind in den größten beiden russischen Städten Moskau und St. Petersburg im April insgesamt 629 Personen an Covid-19 gestorben. Im gleichen Zeitraum jedoch zeigen die ebenfalls offiziellen Todesstatistiken für den Monat an, dass die Übersterblichkeit in den beiden Metropolen insgesamt bei 2.073 lag. Das heißt, heuer sind im April in Moskau und St. Petersburg 2.073 Menschen mehr gestorben als in den vergangenen fünf Jahren im Durchschnitt. Das ist mehr als das Dreifache der Covid-Zahlen.

Höherer Wert möglich

Allein die zusätzlichen Toten von Moskau und St. Petersburg zur gesamtrussischen Zahl der Covid-Opfer hinzuaddiert ergäbe ein Plus von 70 Prozent, rechneten die Journalisten vor. Möglich sei jedoch sogar noch ein viel höherer Wert, wenn landesweit die Zahlen von Übersterblichkeit und Covid-19-Toten ebenso weit auseinandergingen.

Das Denkmodell hat zwei Schwachstellen: Erstens gibt es für das ganze Land derzeit noch keine Todesstatistik für den April, womit sich die These nicht verifizieren lässt. Zweitens gehen die Journalisten davon aus, dass die Übersterblichkeit allein durch die Corona-Pandemie verursacht wurde – was nicht zwangsläufig sein muss.

Doch zumindest beleuchtet ein weiterer Bericht, dass Russland beim Zählen der Opfer – gelinde ausgedrückt – sehr konservativ ist. Die "Moscow Times" hatte nämlich schon vor einigen Tagen herausgefunden, dass in der Ural-Region Tscheljabinsk zwei Statistiken existieren. Offiziell gibt es in der Region nur vier Todesopfer, allerdings sind sieben weitere Personen gestorben, die nachweislich mit dem Sars-CoV-2 infiziert waren. Als Todesursache gelten hier aber andere Krankheiten.

"Fake-News" unter Strafe

Die meisten anderen Länder zählen hier anders. Am weitesten fasst wohl Belgien den Begriff der Corona-Opfer. Das Land zählt beispielsweise alle Toten in Altenheimen dazu, bei denen nur der Verdacht auf eine Covid-19-Erkrankung bestand. Nachgewiesen werden musste diese nicht.

Russland jedoch beharrt auf seiner Wahrheit. Die politische Führung hat "Fake-News" zur Pandemie unter Strafe gestellt. Dementsprechend ist alles, was nicht dem offiziellen Standpunkt entspricht, falsch. So auch die Berichte von "NYT" und "FT", die Sacharowa als Desinformationskampagne charakterisiert. Das russische Außenministerium hat beide Medien schriftlich zu einem Dementi aufgefordert. Die Briefe würden am Freitag den Botschaften übergeben, "weitere Schritte gegenüber 'FT' und 'NYT' hängen davon ab, ob sie das Dementi abdrucken", erklärte Sacharowa weiter.

Zuvor hatten bereits mehrere Duma-Abgeordnete gefordert – darunter auch der Leiter der russischen Delegation im Europarat und ehemalige TV-Moderator Pjotr Tolstoi –, die beiden Zeitungen für die Berichte zu bestrafen und ihnen notfalls die Akkreditierung zu entziehen. (André Ballin aus Moskau, 15.5.2020)