Harald Welzer ist Sozialpsychologe und Publizist. Er ist Direktor von Futurzwei – Stiftung Zukunftsfähigkeit sowie Professor für Transformationsdesign an der Uni Flensburg und lehrt an der Uni in St. Gallen.

Foto: Imago

Bild nicht mehr verfügbar.

Absperren, Abstand halten, Masken tragen, daheim bleiben. Die Corona-Krise verändert den Alltag massiv.

Foto: AP/Ronald Zak

In Demokratien zeigen sich Menschen in der jetzigen Krise meist kooperativ, findet der Soziologe Harald Welzer. Trotzdem müsse man wachsam sein. Welzer warnt vor Tracking-Apps und sorgt sich um die USA.

STANDARD: In Ihrem Buch "Alles könnte anders sein" beschreiben Sie eine Zukunft, in der es sich zu leben lohnt. Der Untertitel ist "Gesellschaftsutopie für freie Menschen". Rückt diese jetzt in weitere Ferne?

Welzer: Das glaube ich nicht. Wir können davon ausgehen, dass es bei einem günstigen Verlauf der Pandemie bald keinen Grund gibt, nicht utopisch zu denken.

STANDARD: Sie bezeichnen die Corona-Krise als gigantisches soziales Experiment.

Welzer: Ja, das ist sie. Unsere ganzen konventionellen Verhaltensweisen, mit denen wir bis jetzt durch den Alltag gingen, wurden suspendiert. Kein Körperkontakt wie Händeschütteln, soziale Kontakte werden reduziert. Familie, Job, Kneipe, Sport, Urlaub – all diese Lebenswelten sind Veränderungen ausgesetzt. Das ist eine Versuchsanordnung, wie man sie wissenschaftlich niemals bauen könnte. Unter diesen Bedingungen zeigt sich auch, was lebensnotwendig ist und was nicht. Was systemrelevant ist und was nicht.

STANDARD: Gesellschaftliche Veränderungen erfolgen, wie die Geschichte zeigt, meistens durch Krisen. Hat auch diese Gesundheitskrise das Potenzial für nachhaltige Veränderungen?

Welzer: Das können wir derzeit noch nicht sagen, weil wir die Dauer noch nicht einschätzen können. Wenn wir diese Krise jetzt schon bewältigt haben sollten, wird man wohl schnell wieder zum vorherigen Status quo zurückkehren. Falls nicht, wer weiß.

STANDARD: Die Dauer der Krise ist offen, ja. Wie lange werden die Menschen Grundrechtsbeschränkungen erdulden, und wovon hängt das ab?

Welzer: Im Wesentlichen von den Medien. In Deutschland gab es ja gerade Demonstrationen in den abenteuerlichsten politischen Konstellationen. Das sind zum Glück extreme Randphänomene. Gleichzeitig ist derzeit die Systemzustimmung extrem hoch. Die Aufgabe wird sein, den Fehler, den man beispielsweise in Deutschland bei Pegida machte, nicht zu wiederholen. Diese lokal begrenzte Minderheit bekam viel zu viel mediale Aufmerksamkeit.

STANDARD: Wie lange wird von oben reglementiertes Verhalten als akzeptierte Notwendigkeit gesehen, ab wann als Zumutung?

Welzer: Ein überwiegender Teil der Bevölkerung hat sich durch Einsicht und nicht durch Zwang den Umständen gemäß verhalten. Das sagen zum Beispiel Umfragen in Deutschland. Die Hälfte der befragten Leute hält die Öffnungen sogar für verfrüht. Insofern haben wir klar gesehen, dass in einer demokratischen Gesellschaft die Bürgerinnen und Bürger verlässliche Partner in der Krise sind. Das ist die eigentliche Erkenntnis der Krise, und genau auf diese Erkenntnis müssen Politik und Medien nun stärker bauen.

STANDARD: Manche Politiker nutzen aber die Krise auch, um Demokratien zu schwächen. In Europa gibt es da Befürchtungen bei Polen oder Ungarn. Wie gefährlich ist es in Ländern wie Österreich oder Deutschland, dass die Demokratie Schaden nimmt?

Welzer: Die Geschehnisse in Polen oder Ungarn sind natürlich ein großes Problem für die Europäische Union. Zu Österreich halte ich mich zurück, aber bis zur Ibiza-Affäre war das Land ja schon in erheblich negativer Drift. Man hat gesehen, wie schnell Konsens-Verschiebungen stattfinden und Dinge sich etablieren, die man nicht für möglich gehalten hätte.

STANDARD: Welchen Einfluss hat die Tatsache, dass zum Beispiel Gesellschaften wie in Spanien in der jüngeren Geschichte Erfahrungen mit diktatorischen Regierungen gemacht haben?

Welzer: Da sehe ich eigentlich keinen Einfluss. In Spanien oder Italien waren die Beschränkungen gleichermaßen rigoros. Das hing von der akuten Situation ab.

STANDARD: Viel wird derzeit über die Verwendung von Tracking-Apps debattiert. Wie denken Sie darüber?

Welzer: Ich bin da strikt dagegen. Das Argument, dass Tracking aus wissenschaftlicher Notwendigkeit heraus angezeigt ist, wird es immer wieder geben. Aber in dem Augenblick, in dem das einmal eingeführt wird, wird es für vergleichbare Maßnahmen kein Halten mehr geben. Das Argument der Freiwilligkeit ist ein bisschen perfide, weil ja soziale Konformität erzeugt wird: Tu das freiwillig, sonst schadest du deinen Mitmenschen.

Ich finde es auch deswegen ungut, weil es das Problem nicht trifft. In Deutschland wurden zum Beispiel gerade viele Arbeiter in einer Großschlachterei positiv auf das Coronavirus getestet. Dieser Ausbruch hat schlicht und ergreifend damit zu tun gehabt, wie importierte Arbeitskräfte dort existieren müssen und untergebracht sind. Das sind Verhältnisse, die dürfen wir als Gesellschaft nicht tolerieren und die kann man auch nicht mit Apps unterbinden.

STANDARD: Debatten anderer Dimension gibt es in den USA. Hier wird mit Corona politisches Kleingeld im US-Wahlkampf gemacht. Hat das Gewaltpotenzial?

Welzer: Aber sicher. Die Politik von Donald Trump hat das Ziel der Staatszerstörung. Noch sind die USA eine in Teilen gut funktionierende Demokratie mit Gewaltenteilung, aber das Gewaltpotenzial wird wachsen, je länger die zerstörerische Politik anhält.

Interessant ist in diesem Zusammenhang in Europa für mich aber auch, dass die Zustimmungswerte der rechtspopulistischen Parteien in der Corona-Krise radikal gesunken sind. Ich meine, daran kann man ablesen, dass man es überhaupt nicht mit dem Phänomen der sozial deklassierten und abgehängten Wählerschaft zu tun hat. Man muss vielmehr ganz hart sagen: Die Leute verstehen teilweise nicht, wie gut es ihnen geht und wie hervorragend moderne demokratische Gesellschaften funktionieren. Insgesamt geht es heute darum, dass man die vernünftig denkenden Mehrheiten in den Gesellschaften stärkt und dem zerstörerischen Potenzial durch zu viel Aufmerksamkeit nicht noch mehr Unterstützung zukommen lässt. (Manuela Honsig-Erlenburg, 15.5.2020)