Beim Interview in der Kreisky-Stiftung zeigt sich Bürgermeister Ludwig überzeugt: "Nur SPÖ und Gewerkschaft bringen die Kompetenz zur Lösung der Wirtschaftskrise auf."

Foto: Robert Newald

STANDARD: Herr Bürgermeister, Sie sind Historiker und Politikwissenschafter. Wir haben jetzt 75 Jahre Wiedergründung der Republik und am heutigen 15. Mai 65 Jahre Staatsvertrag. Versuchen wir, ein paar große Linien zu ziehen. Republikgründung, Staatsvertrag, EU-Beitritt 1995 waren gemeinsame Großprojekte der beiden "staatstragenden" Parteien SPÖ und ÖVP. Wo ist das heute?

Ludwig: Es hat auch das Modell der Sozialpartnerschaft gegeben. Die war ein europäisch anerkanntes Modell, das es nur in Österreich gibt. Die Sozialpartnerschaft ist immer noch stark geprägt von Repräsentanten dieser beiden Parteien, die allerdings nicht mehr so intensiv zusammenarbeiten. Aber wie wir jetzt sehen, ist es in der Zeit der Krise sogar für jene Politiker in der ÖVP, die bis vor kurzem massiv gegen die Sozialpartnerschaft agitiert haben, notwendig, sozialpartnerschaftliche Lösungen zu finden. Sogar jene Kreise der ÖVP, die der Sozialdemokratie negativ gegenüberstehen, sehen, dass sie mit der SPÖ, den Gewerkschaften und der Arbeiterkammer zusammenarbeiten müssen.

STANDARD: Ist das nicht zu optimistisch? Immerhin wurden die Arbeitnehmervertreter aus dem Sozialversicherungskomplex hinausgeschmissen.

Ludwig: Das war noch vor der Krise. Jetzt schaut die Welt ganz anders aus, denn dass die Kurzarbeit eingeführt wurde, ist auf massiven Druck der Gewerkschaft geschehen.

STANDARD: Wir haben allerdings eine dominierende konservative Partei, die Türkisen, die die Sozialdemokratie zur Seite drängt. Ist das kurzfristig, oder sehen Sie eine längere Hegemonie der Konservativen mit grünem Anhängsel ?

Ludwig: Den Hegemonialanspruch gibt es, das dämmert den Grünen ja auch. Dass es der Wunschtraum der ÖVP ist, die SPÖ zu ersetzen, zuerst durch die FPÖ, dann durch die Grünen, wird ein Wunschtraum bleiben. Denn die Bevölkerung setzt zu einem großen Teil ihr Vertrauen in die Sozialdemokratie. Ich warte ja immer auf die großen Veränderungen im Sinne einer Sozialdemokratie ohne Sozialdemokratie. Schau ma mal, wie die "Sozialdemokratisierung der ÖVP" funktionieren wird. Denn die Menschen werden nicht Pressekonferenzen und Ankündigungen bewerten, sondern das, was real für sie passiert.

STANDARD: Wir haben 550.000 Arbeitslose, über eine Million in Kurzarbeit, wir stehen möglicherweise vor einer Depression wie in den Dreißigerjahren. Kann ein solches Problem ohne Sozialdemokratie bewältigt werden?

Ludwig: Ich bin überzeugt, dass das nicht geht ohne SPÖ und Gewerkschaft. Ich wüsste nicht, welche andere politische Kraft diese Kompetenz aufbringen könnte.

STANDARD: Was wäre aber eine konkrete Maßnahme, die die SPÖ einbringen könnte, um diese drohende Depression zu bekämpfen – Wiederverstaatlichung oder staatliche Konjunkturspritzen oder was immer?

Ludwig: Nach der Stabilisierung des Wirtschaftsstandorts mit Investitionen der öffentlichen Hand wird man fragen müssen, wie die Verteilung der Belastung funktioniert. Manche in der Regierung sagen, Geld und Kredit sind derzeit billig, man wird das nie zurückzahlen müssen. Das ist eine Illusion. Es wird daher notwendig sein, jene, die besonders profitieren, wie internationale Konzerne – Amazon, Google usw. –, heranzuziehen. Es wäre Aufgabe der Regierung, innerhalb der EU da etwas zu finden.

STANDARD: Vermögenssteuer, Erbschaftssteuer fallen Ihnen da nicht ein?

Ludwig: Mit einer Erbschaftssteuer allein wird man das nicht finanzieren können. Und es müsste ja realistischerweise um eine Vermögenszuwachssteuer gehen. Ich wäre ja dagegen, etwa bei Betrieben eine Substanzsteuer einzuführen. Es sind ja jetzt so viele an der Kippe. Aber angesichts dieses "Koste es, was es wolle" der Regierung, der Kehrtwendung der Nulldefizit-Fans in der Regierung – da muss man auch darüber nachdenken, wie man diese Kosten sozial gerecht verteilt. Das können nicht die Arbeitnehmer oder Pensionisten übernehmen.

STANDARD: Es geht wieder in Richtung eines Zwiespalts Länder und Wien. Die Türkisen betreiben eine Politik der Nadelstiche gegen Wien, die größte Bastion der SPÖ.

Ludwig: Ich finde es bedauerlich, dass Teile der Bundesregierung Wien in ein schlechtes Licht rücken möchten. Wir orten da sehr viel an Missgunst. Es hat ja geheißen, man werde im nächsten Finanzausgleich schauen, dass die finanziellen Mittel, die in die U-Bahn und die Kultur von Wien laufen, anders verteilt werden.

STANDARD: Hat nicht die Sozialdemokratie die kulturelle Hegemonie verloren, die sie bis vor relativ kurzer Zeit hatte?

Ludwig: Wir waren immer auch eine Kultur- und Bildungsbewegung. Unser Ziel war, dass alle teilnehmen können. Der Aufschrei der Künstler und Künstlerinnen jetzt zeigt ja, dass es keinen sinnvollen Dialog auf Bundesebene gegeben hat, um deren Probleme zu lösen. Wir springen als Stadt da auch etwas ein.

STANDARD: In Osteuropa herrscht 25 Jahre nach der Wende ein ganz deutlicher Trend zum Autoritären. Wo sind die Sozialdemokratie und die internationale Solidarität?

Ludwig: Ich habe die Bürgermeister der vier Hauptstädte der Visegrád-Länder (Ungarn, Polen, Slowakei, Tschechien), das sind alles Sozialdemokraten, Grüne oder Liberale, eingeladen. Musste leider wegen Corona abgesagt werden. Aber es ist ein schönes Zeichen, dass die Städte auch der politische Motor der Fortschrittlichkeit sind. Wir sehen uns in Wien als Antipoden dieser autoritären Entwicklung.