Alexander Kluge sammelt in seinem neuen Buch poetische und historische Fracht aus den Weiten Russlands.

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Alexander Kluge gehört zu den eigenwilligsten und beeindruckendsten Schriftstellern der Gegenwart. In seinem Roman Russland-Kontainer wendet er sich dem größten Land der Erde zu. Weit wirft Kluge seine Netze aus und sammelt eine Fülle kurioser, bewegender und verblüffender Geschichten, Ereignisse und Beobachtungen. Dabei bezieht er Naturwissenschaften und Technik ebenso ein wie Wirtschaft, Religion, Literatur und Musik. Nicht ein einheitliches Bild Russlands entwirft Kluge, sondern eine Vielfalt an Perspektiven tut sich vor dem Leser auf.

STANDARD: In Ihrem Roman "Russland-Kontainer" nähern Sie sich Russland von überallher: aus den Weiten des Himmels, den Tiefen der Erde und den einzelnen Himmelsrichtungen. Doch stets versperren Hindernisse den Weg. Liegt in diesen undurchdringlichen Weiten die Unmöglichkeit, das Land zu verstehen?

Alexander Kluge: Mir war dieses weite Land immer ein Rätsel. Und es gibt mir zu denken, wie wenig wir von ihm begreifen. Es ist unvorstellbar, wie viele Zeitzonen das sind bis Wladiwostok. Die Transsibirische Eisenbahn durchquert dieses Land wie ein in die Länge gestürzter Eiffelturm. Aber das geschieht nur in einem schmalen Abschnitt im Süden. Schon fünfzig Kilometer neben den Schienen fängt ein neues Land an. Und nach Norden führen wenige Wege. Die Flüsse münden ins Eismeer. Will man Russland mit Füßen erobern, spreizt es sich und wirkt entgegen.

STANDARD: Mit Blick auf die Größe der russischen Poesie wies der Slawist Fritz Mierau auf die geistige Ausdehnung Russlands hin: "Da tönt etwas aus einem Raum, der nicht nur der Brustraum ist, sondern ein unermesslich weiter geografischer und geistiger Raum …"

Kluge: Diesen geistigen Raum empfinde ich von ganzer Seele. "Alle Seelen Russlands weisen mit ihren Wurzeln zum Himmel", heißt es bei Modest Mussorgski. Den Satz muss man relativieren und auch den Terror und die Prozesse von 1937 wahrnehmen. Die russischen Ikonen weisen als spirituelle Fenster im Haus nicht nach draußen, sondern auf innere Landschaften, die eigene Vorgeschichte. Das Licht der Ikonen kehrt in den russischen Filmen vor 1918 wieder. Das sind bezaubernde Filme von hoher Spiritualität. Sie erzählen von Melodramen. Und dann ist da das Licht, das in einem Revolver blitzt, der auf den Nacken von Nikolai Bucharin gerichtet ist. Der war einer der Beliebtesten der Partei, ein vertrauenswürdiger Genosse. Nach den Prozessen von 1937/38 wurde er erschossen. Dieser Blitz im Revolver ist die Anti-Ikone. Dazwischen liegt das weite Feld der Wirklichkeiten Russlands.

STANDARD: Als Sammlung, die die Zuarbeit des Lesers einschließt, beschreiben Sie Ihren Roman. Ist das eine Einladung an den Leser, sich einzuschreiben in Ihr Buch?

Kluge: Das wünsche ich mir. Die bewundernswerten Verfügungsgewalten, die im Silicon Valley mit Algorithmen die Welt organisieren, lassen starke Lücken. Die 13. Fee aus dem Märchen Dornröschen kommt gewiss nicht vor. Die ist ausgeschlossen, weil das Geschirr nur für zwölf weise Frauen im Reich reicht. Ich bin Anwalt der 13. Fee. Die Brüder Grimm waren auch Sammler. Heiner Müller nannte das Sammeln das eigentlich Poetische. Von dem stolzen Denkmal, das in der Romantik für den Autor als Dompteur der Gestaltung errichtet wurde, müssen wir heruntersteigen. Meine poetische Arbeit ist es, zu pflanzen, wachsen zu lassen, zu beobachten, zu sammeln und kleine Wunderkammern zu errichten.

STANDARD: Wunderkammern der Besonderheiten?

Kluge: Am Hof Rudolfs II. auf dem Prager Hradschin gab es eine Kunst- und Wunderkammer. An diesem Hof wirkte ein Astronom wie Tycho Brahe, und durch die Tür lugte der junge Kepler. Außerdem waren da Altphilologen, Alchemisten, Magier und viele Musiker tätig. Die arbeiteten alle zusammen. Das ist die wahre Moderne Europas. Die Poetik bemüht sich um ein Gleichgewicht zu den großmächtigen Gebilden, die da von den Enkelkindern der Blumenkinder aus Algorithmen in der digitalen Welt geschaffen werden und in denen alles abstrahiert wird. Der Gegensatz von Apollo und Dionysos hat sich überholt. Apollo als Gott des Algorithmus muss den Satyr Marsyas als Gegenpol haben. Das war der bessere Musiker. Apollo hat ihm die Haut abgezogen.

STANDARD: Da stellt sich die Fragenach der Formbarkeit des Menschen. "Was macht Menschen wandlungsfähig, formbar für die GESELLSCHAFT DER GLEICHEN?", heißt es in Ihrem Buch. Wobei Sie zuvor auf die Dressurunfähigkeit von Wildkatzen hinweisen: "Lieber sterben als emotional lügen." Wo steht der Mensch?

Kluge: Genau da. In Bizets Oper entscheidet sich Carmen lieber zu sterben, als einem Mann zu folgen, den sie nicht liebt. Wir Menschen sind so komplex, dass wir gar nicht gehorchen können. In uns besteht alles aus Gehorsam, aber auch aus Rebellion. Dieser Zwiespalt macht uns erfindungsreich. Wir sind unfähig, Sklaven zu sein. Und wenn einer Sklave ist wie jener Abraham Hannibal, dann wird der Urenkel ein Alexander Puschkin, ein Herrscher der Sprache.

STANDARD: Mit Heiner Müller sprachen Sie über die russischen Biokosmisten. Das schlägt den Bogen zur Raumfahrt, mit der Sie sich befassen. Das Motivder russischen Raumfahrt lag jaursprünglich in derBesiedlung des Weltraums mit all den von den Biokosmisten wiedererweckten Toten …

Kluge: Die Toten sollten zum Leben erweckt werden, weil der Sozialismus aus Gerechtigkeit auch für die Vorfahren herzustellen war. Und wenn Sibirien all die wiederbelebten Toten nicht mehr aufnehmen kann, muss Raumfahrt betrieben werden. Die Idee, Fabriken zur Wiederbelebung der Toten zu errichten, konnte nicht verwirklicht werden. Mit der Raumstation Mir wurde die zweite Idee jedoch umgesetzt. "Apokatastasis panton", die Wiedererweckung aller, ist eine uralte theologische Idee. Walter Benjamin und Gershom Scholem haben sich mit dieser antiken und jüdischen Vorstellung der Rettung auseinandergesetzt. Für sie ist es der wichtigste Ansatz der Menschheit, alles, was zu Unrecht in der Vergangenheit begraben liegt, wiederherzustellen.

STANDARD: Glauben Sie, dass das möglich ist?

Kluge: Physisch in Fabriken kann man das nicht, und auch nicht mit wirklichen Menschen. Aber mit der Geschichtsschreibung und all den verlorengegangenen Ideen der Menschen lässt es sich bewerkstelligen. Wir sind gut beraten, aufzugreifen und wiederzubeleben, was zu Unrecht zerstört wurde. Als Ingenieure der Geschichte könnten wir sogar die abgebrannte Bibliothek von Alexandria noch einmal neu errichten. In ihr lagen einst sieben Dramen von Sophokles. Die sind verloren. Darunter befindet sich zum Beispiel das Drama vom "Tod des Odysseus". Von dem haben wir lediglich sieben Zeilen, die andere Dichter zitierten. Dieses Drama gegen alle Wahrscheinlichkeit wiederzubeleben wäre eine poetische Aufgabe. Ich könnte Georg Baselitz überreden, Szenen dazu zu malen. Dann könnte ich dazu Geschichten erzählen. Kooperativ könnten wir das.

STANDARD: War das eine besondere Zeit der Utopien in den russischen 1920er-Jahren?

Kluge: Das war es. Der Arzt und Philosoph Alexander Bogdanow begann, die Idee der Unsterblichkeit durch Blutaustausch umzusetzen. Die Jungen sollten das immunkräftige Blut der Alten bekommen und dafür den Alten ihr frisches, junges Blut geben. Das hielt keiner wissenschaftlichen Prüfung stand und ging außerdem für Bogdanow selbst schief, weil die Spritze verunreinigt war. Die Idee besitzt aber auch eine platonische Komponente: Kann man den zerrissenen Menschen wieder zusammenbauen? Nach 1917 wurden wagonweise Osram-Glühbirnen nach Russland importiert und nach Sibirien geschafft, um dort die Nächte zu erobern. Es waren die Nächte, in denen das Alphabet gelernt wurde. Und die Alphabetisierung gelang. Mich bewegt es, Kinder lernen zu sehen. Ich war ein begeisterter Abc-Schütze und fühlte mich stark und anerkannt von meinen Eltern, als ich meinen Namen schreiben konnte. Dass Lernen Lust bereitet, erkenne ich in den Anfängen der Russischen Revolution wieder.

STANDARD: Zu den Utopien gehörte auch die Schaffung eines sibirischen Meeres. Würden Sie solche Projekte als Größenwahn oder als Zeichen großer Gedankenfreiheit ansehen?

Kluge: Ich sehe sie als Gedankenfreiheit. Wenn Leonardo da Vinci mir im Traum erschiene, würde er mir zustimmen. Vorsicht mag wichtig sein. Aber sie entspricht nicht unserem Temperament. Das kommt viel mehr in der Aufklärung und der Überzeugung zum Ausdruck, dass Menschen nichts verborgen ist. Allerdings müssen wir den Hochmut, der in der Aufklärung steckt, bekämpfen. Darin besteht die Dialektik der Aufklärung, wie das Buch von Max Horkheimer und Theodor Adorno heißt. Wir müssen die Lust des aufgeklärten Zeitalters am Können der Menschen und der Zivilisation verbinden mit der Vorsicht vor der Hybris.

STANDARD: Mit Heiner Müller kommen Sie auf die Vorstellung vom umgelegten Schalter der Geschichte, es geht um den Dezember 1991 …

Kluge: Nach dem Putsch vom August 1991 hätte ich mir mindestens fünf oder acht Jahre Perestroika gewünscht. Um etwas Neues zu entwickeln, bedarf es langer Inkubationszeiten. Als ich den amerikanischen Außenminister Baker sich wie einen Nachlassverwalter in Russland hin- und herbewegen sah und all die Ökonomisten aus Chicago kamen, um ihre Irrtümer zu verbreiten, wünschte ich mir, dass autochthon Wege zu etwas Neuem gefunden würden.

STANDARD: Hätten denn Ansätze dazu bestanden?

Kluge: In Nowgorod zum Beispiel entwickelte Boris Nemzow Reformen. Anatoli Sobtschak in Petersburg scharte einen Kreis von Reformern um sich. Gorbatschow, den ich damals interviewte, hatte Reformer um sich. Und auch seine Kritiker wie Valentin Falin waren offene Naturen. Die Ideen, die in diesen Kreisen diskutiert wurden, hätten ausgetragen werden müssen. Das Wissenschaftszentrum Akademgorodok bei Nowosibirsk ist eines der brillantesten seiner Art. Es erinnerte mich an die Zeit Katharinas der Großen, die alles, was Europa und Russland an Spiritualität und Wissenschaftsgeist zu bieten hatten, um sich scharte. Die beste Mathematik, Physik und Astronomie. Bereits in den Jahren vor Gorbatschow und während seiner Regierung erblühten in Russland solche Oasen der zweiten Natur, wie Luhmann es nennen würde. Aber es wurde ihnen nicht genügend Zeit zur Entwicklung gelassen.

STANDARD: "Nichts macht so hoffnungslos wie die Tatsache, dass es zu anderer Zeit Grund zur Hoffnung gegeben hat", zitieren Sie aus Andrej Platonows Roman "Tschewengur" über den Weg eines jungen Idealisten in den Kommunismus. Hoffnung gab es 1905, in der Ära Chruschtschow und zur Zeit der Perestroika. Empfinden Sie jetzt Hoffnungslosigkeit?

Kluge: Wir gehen im Moment auf der ganzen Welt durch eine Wolke aus Hoffnungslosigkeit. Aber gerade in diesem Augenblick, in dem wir sprechen, sind mindestens 100.000 Lebensläufer in Afrika unterwegs, die ihrer Hoffnung nachjagen. Das Gleiche geschieht in Südamerika. Ein Prozent gewinnt auch, was es erhofft. Am Amur an der Grenze zwischen China, wo viele Menschen leben, und Russland, wo wenige leben, entwickelt sich vielleicht gerade ein Zentrum der Welt. In Zeiten, da es scheint, als hätten wir eine Summierung von Irrwegen, muss man mit erhöhter Aufmerksamkeit suchen. Die Welt ist so vielfältig und voller Unwahrscheinlichkeiten, ein Kondensat schon verbrachter Zeit. 4,6 Milliarden Jahre ist unser Sonnensystem alt. Davor liegen 13,8 Milliarden Jahre, in denen der Kosmos entstand. Drei Sonnen mussten verglühen, damit wir Menschen uns entwickeln. Da steckt eine Menge Input in uns, und da werden auch Auswege verborgen sein.

STANDARD: Der offene Schluss Ihres Romans mit all den Fäden, die in Richtung Krieg hängen, wirkt dennoch bedrohlich …

Kluge: Ich bin abergläubisch. Wenn ich einen hoffnungsreichen Schluss schreibe, dann wird der sicher nicht eintreten. Ich erinnere mich an das Jahr 1983. Da fühlte ich mich mit meinem ersten Kind unendlich glücklich und als große Kassandra der Literatur und des Films. Mit Volker Schlöndorff und Rainer Werner Fassbinder im Kollektiv hatte ich gerade den Antikriegsfilm Krieg und Frieden mit vielen eindringlichen Warnungen gedreht. Und genau in diesem Augenblick war der gefährlichste Augenblick im Kalten Krieg. Das war mir eine Warnung.

STANDARD: Vor einem neuen Krieg?

Kluge: Die Kriegsdrohung ist nur ein Abbild dessen, was existiert: Die Nato ist ein Rüstungsbetrieb. Ob wir auf jemanden wie den derzeitigen amerikanischen Präsidenten vertrauen können, weiß man nicht. Max Weber spricht in Bezug auf jemanden, der so forsch wie ein Siebenjähriger mit Weltverhältnissen, Atombomben und der Frage von Krieg und Frieden umgeht wie Trump, vom Charisma des betrunkenen Elefanten. Wenn jemand wie ein Kindkaiser auftritt, dann löst das vielleicht zunächst Sympathie aus. Man denkt, ein Kind könne die Welt wandeln. Alles fängt neu an. Doch das ist eminent gefährlich. Ein Kasperltheater funktioniert genauso. Die Kinder rufen dem Kasperl zu: "Pass auf! Da ist das Krokodil!" Aber nur deshalb, weil der Kasperl selbst es nicht sieht. (Ruth Renée Reif, 16.5.2020)