Auch die heimischen Aktionisten kultivierten in den 1960er-Jahren den Zorn: Günter Brus, fotografiert in der Aktion "Selbstverstümmelung" im Wiener Perinetkeller.

Foto: Siegfried Klein

Mögen in anderen europäischen Ländern wohl abgewogene politische Überlegungen in Poesie und Prosa einfließen: In Österreichs skurriler, vielgestaltiger Literatur bricht sich der Unmut häufig genug auf handgreifliche Weise Bahn. Unüberhörbar tönt es dieser Tage von den Ruhebänken der heimischen Intellektuellen her: Man möchte im Zuge der allgemeinen Corona-Bestimmungen von der Regierung gehört werden. Wer denkt und dichtet, soll den Machthabern gleichberechtigt gegenüberstehen. Sorgen und Befürchtungen zirkulieren in einem Klima zunehmender Gereiztheit. Ein altgedienter Kabarettist wie Lukas Resetarits hält sich mit telegenem Hohnlachen die Charaktermaske des Wutbürgers vors Gesicht.

Die geduldige, diskursive Aushandlung gesellschaftlicher Übereinkünfte verfügt in Österreich, wo man reichlich spät zur Demokratie fand, nur über geringes Prestige. In seinem Monsterroman "Die Merowinger oder Die totale Familie" (1962) hat Heimito von Doderer die bloße, cholerische Wut als Produktivkraft innig verklärt. Familienpotentat "Childerich III." bringt darin nicht nur das Kunststück zuwege, durch eine besonders ausgeklügelte Heiratspolitik sämtliche Funktionsposten auf dem Familienstammbaum mit sich selbst zu besetzen.

Childerich, der auch diverse imperiale Barttrachten auf dem Wurzelgrund seines Antlitzes vereinigt, läuft leicht über. Seien es nun Tobsucht, Ingrimm oder Weißglut, in Doderers Roman begegnet man allen nur denkbaren Verkehrsformen einer Aggressionslust, die sich nicht zu bezähmen weiß.

Lust auf das Faustrecht

Der Mordsspaß dieses Buches besteht u.a. darin, dass es das friedliche Zustandekommen politischer Übereinkünfte, das geduldige Bohren harter Bretter, das Heischen um Zustimmung, pikiert von sich weist. In den Köpfen der originellsten Dichter herrscht häufig das Faustrecht. Jahrhunderte der monarchischen Ordnung bewirken in Österreich ein zähes Ineinanderfließen der Begriffe von Nation, Monarchie und Gott. Nichts ist einem Wüterich wie Childerich heilig, eben weil die Verhältnisse für ihn und seinesgleichen als unwandelbar, als (schlecht) verewigt erscheinen.

Unter dem Deckmantel einer "gesunden" Skepsis schlummert mitunter abgründige Resignation. Von ihr nährt sich eine Wut, die sich mit demokratiepolitischen Erwägungen lieber nicht gemein macht. Johann Nestroy hat der Übersäuerung seines Gemüts die heftigste Kritik an der menschlichen Dummheit abgewonnen. Nur auf die Wahrnehmung der politischen Morgenröte wollte er sich ungern verstehen. Selbst dann, als er im Frühjahr des Revolutionsjahres 1848 in der Uniform eines republikanischen "National-Gardisten" durch die Wiener Leopoldstadt stolzierte.

Seine "Freiheit in Krähwinkel", im selben Jahr aufgeführt, enthält beißenden Spott, der auch die bürgerliche Emanzipationsbewegung trifft. Dem "Volk" – Träger von Freiheit und Souveränität – empfiehlt er, dass es im Genick gepackt und mit der Nase auf die Moral gestoßen werde. Auch hier quillt das Misstrauen gegenüber allen Emanzipationsbestrebungen über den Topfrand.

Ähnlichen Entäußerungen eines Zornes, den man nicht für aufklärerisch halten möchte, begegnet man in der heimischen Literatur auf Schritt und Tritt. Der Mensch als "geselliges Tier" wird von Denkern wie Ernst Mach, späterhin von Dramatikern wie Arthur Schnitzler in seine einzelnen Teile zerlegt. Während andere Nationalkulturen sich um die gesellschaftsbildende Kraft des modernen Individuums besorgt zeigen, kümmert man sich hierzulande lieber um das Frustpotenzial des isolierten Subjekts.

Böse Skepsis

Das Ideal der kommunikativen Vernunft wird auch in der Republik Österreich oft einer bösen Skepsis preisgegeben. Wer kann, schlägt sich in die Büsche. In den Schmelzkammern der Modernisten wimmelt es von Husaren, von Schäfern und Hanswürsten (H.C. Artmann), von proto-faschistischen Hausmeistern (Elias Canetti). In den Schriften Konrad Bayers ("der sechste sinn") begegnet man Dandys, die einander kognitiv – als Manipulatoren von "Wirklichkeit" – zu überbieten trachten. Nur konsens- und politikfähig erscheinen solche aggressionsgeladenen Figuren in der Regel nicht. Und so besitzt die Aussicht auf eine Besänftigung der Weißglut unübersehbar utopische Züge.

In seiner Schrift zum "bio-adapter" (1963/66) hat Oswald Wiener eine sinnreiche Einrichtung ersonnen. Mit ihrer Hilfe soll der mitteleuropäische Mensch symbiotisch mit einer technischen Hülle verschmelzen. Sie legt sich wie eine Membran aus Schaltkreisen schützend um den Organismus und dessen Steuerungssysteme. Schrittweise soll besagter Adapter nicht nur die Umwelt ersetzen, sondern auch den Verkehr mit den Artgenossen aufwiegen. Ziel sei das "allmähliche aufsaugen der zellorganisation" durch die elektronischen Schaltkomplexe. Die schöne, neue Welt der heimischen Dichter und Denker war schon vor bald sechzig Jahren kybernetischer Natur. Ihr Ziel: ein wissenschaftlich angeleitetes Herunterkühlen der unbändigen Wut, die einen unwillkürlich erfüllt.

In der Tat: Politik, verstanden als vernunftgeleitete Regelung des Zusammenlebens, sollte man doch lieber kalt genießen. (Ronald Pohl, 16.5.2020)