Die Bananenschale ist das Sinnbild des Risikos. Die Wahrscheinlichkeit, dass man tatsächlich auf einer ausrutscht und stürzt, ist allerdings recht klein.

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Das Leben war so einfach in den ersten Wochen des Corona-Shutdowns. Wer besonnen, rücksichtsvoll und gesetzestreu war, blieb einfach zu Hause. Doch mit den zunehmenden Lockerungen stellen sich für jeden Einzelnen immer mehr Fragen: Soll ich Freunde treffen, ins Wirtshaus gehen, die Kinder in die Schule schicken, vielleicht sogar verreisen? Was ist unbedenklich, und wo gehe ich ein unnötiges Risiko ein, mich selbst oder andere zu infizieren?

Die Corona-Krise ist für viele Menschen ein Crashkurs in einer schwierigen Disziplin – dem Risikomanagement. Womit sich Experten in Versicherungen, der Finanzwelt und anderen Branchen professionell beschäftigen, ist nun Aufgabe für jeden Einzelnen. Ganz neu ist das nicht. Denn das Alltagsleben ist immer mit Risiken behaftet, und jeder Schritt, den man unternimmt, setzt eine Abwägung von Nutzen und möglichen Gefahren voraus. Selbst zu Hause zu bleiben ist ein Wagnis: 39 Prozent aller Verletzungen ginge 2018 auf Haushaltsunfälle zurück.

"Leben bedeutet immer Risiko, aber in der Corona-Krise spüren die Menschen das viel mehr als sonst und müssen lernen, Entscheidungen zu treffen", sagt die US-Ökonomin Allison Schrager. "Und je mehr aufgemacht wird, desto mehr Entscheidungen muss jeder Einzelne treffen." Schrager hat in ihrem Buch An Economist Walks into a Brothel Risikostrategien im Alltag beschrieben – darunter auch über die titelgebende Entscheidung von Prostituierten in Nevada, auf einen Gutteil ihrer Einnahmen zugunsten der Sicherheit eines Bordells zu verzichten.

Unbekanntes Risiko

Aber in vielen Lebenslagen kennt man die Wahrscheinlichkeit, dass einem etwas zustößt, oder hat ein Gefühl dafür. Wer paragliden, bergsteigen oder Motorrad fahren geht, nimmt ein kalkuliertes Todesrisiko in Kauf. Beim Motorbike beträgt es ein Prozent in 1000 Stunden, beim Paragliding drei Prozent. Auch Raucher können nachlesen, wie viele Lebensjahre sie ihr Laster kostet. Und im Kasino, dem Sinnbild des Risikos, lassen sich die Gewinn- und Verlustchancen präzise berechnen.

Bei Covid-19 hingegen ist das tatsächliche Risiko unbekannt, weil die Wissenschaft zu wenig über das Virus weiß. Die Todesraten schwanken von Land zu Land, und die offiziellen Zahlen über Infektionen gelten als unzuverlässig. Ein Lokal mit 50 anderen Gästen zu betreten kann völlig ungefährlich sein. Aber wenn auch nur eine infizierte Person dabei ist, die es selbst nicht weiß, und die Abstandsregeln nicht eingehalten werden, kann es brenzlig werden.

Und je mehr Menschen sich dem Risiko aussetzen, desto größer wird die Gefahr für alle. "Mit Risiko kann man lernen umzugehen, aber mit dieser Unsicherheit tut sich jeder noch viel schwerer", sagt der Verhaltensökonom Martin Kocher, Direktor des Instituts für Höhere Studien (IHS).

Holzhammermethoden

Diese Ambiguität, wie es Ökonomen nennen, haben auch der Politik die Entscheidungsfindung in der Corona-Krise erschwert. Wegen fehlender Daten tappen die Regierungen im Dunkeln. Dass physische Distanz funktioniert, wusste man aus der Erfahrung mit früheren Pandemien. Aber sind Masken wirkungslos, wie auch viele Wissenschafter bis heute behaupten, oder bringt das häufige Maskentragen in Asien doch etwas?

Ist es fast nicht möglich, sich im Freien anzustecken, und sind daher alle Abstandsregeln unnötig? Und wie schaut es wirklich mit der Ansteckungsgefahr bei Kindern aus – und in der Folge mit dem Sinn von Schul- und Kindergartenschließungen? Zu all diesen kritischen Fragen gibt es trotz täglich neuer Studien keine verlässlichen Antworten.

Rückblickend hält es Schrager für richtig, dass europäische Regierungen im März von den schlimmsten Szenarien ausgegangen sind und das Leben und die Wirtschaft mit Holzhammermethoden heruntergefahren haben. "Italien war ein Weckruf", sagt sie. "Angesichts der Bilder von überfüllten Spitälern und Massen von Särgen konnte man gar nicht überreagieren. Man musste die Rettung von Menschenleben zur Priorität machen."

Einfache Regeln

Dabei erließen die Regierungen meist einfache Regeln, wie etwa die berühmten vier Gründe für das Verlassen des Hauses von Kanzler Sebastian Kurz. Dafür habe es gute Gründe gegeben, sagt IHS-Chef Kocher. "Wenn Menschen verunsichert sind, unterstützen sie einfache und drastische Maßnahmen. Komplizierte Regeln verunsichern sie nur noch mehr." Feingliedrigere Maßnahmen wie etwa Sperren nur in bestimmten Gebieten oder für gewisse Lebensbereiche hätten weniger gut gewirkt. Kocher: "Dann wäre der Widerstand größer gewesen."

Nun aber, da die Zahl der Erkrankten täglich sinkt, wird es komplizierter. Regierungen müssen zwischen zwei Risiken abwägen – dem Wiederaufflammen der Pandemie und einer verschärften Wirtschaftskrise, die auch Leid verursacht und sogar Menschenleben kostet.

Verschärft wird dieses Dilemma durch die Tatsache, dass die meisten Menschen sich mit Unsicherheit unwohl fühlen, betont Kocher. Sie sind "ambiguitätsavers" und werden dadurch noch vorsichtiger. Diese Ängstlichkeit droht nun den privaten Konsum und damit den wirtschaftlichen Aufschwung zu bremsen.

"Im Zweifel bin ich vorsichtig, sagen sich viele. Aber das führt auch zu Verlusten, in diesem Fall zu wirtschaftlichen", sagt Kocher. "Wenn einmal ein kollektiver Pessimismus um sich greift, dann bewegen wir uns in einer Abwärtsspirale." Anders als bei der Finanzkrise, als der Staat die Banken auffing und so die Angst vor finanziellen Verlusten dämpfte, sei es viel schwieriger, den Menschen die Angst vor dem Virus zu nehmen – zumindest solange es keine Impfung gibt.

Also müsste die Regierung, nachdem sie wochenlang zur Vorsicht gemahnt hat, jetzt die Menschen ermutigen, sich etwas mehr zu trauen, glaubt Kocher. Das heiße nicht, Vorsichtsmaßnahmen wie Abstandhalten und Händewaschen zu vernachlässigen, aber sehr wohl das Leben wieder zu genießen, wo es erlaubt ist. Doch diese zwiespältige Botschaft sei schwieriger zu kommunizieren als das einfache "Bleib zu Hause".

Furcht vor dem Falschen

Das Grundproblem ist, dass Menschen bei der Einschätzung von Risiken oft danebenliegen – selbst wenn diese berechenbar sind. Sie lassen sich von aktuellen Ereignissen, Erzählungen und Bildern beeinflussen und ignorieren wissenschaftliche Studien oder Statistiken. Man fürchtet sich vor Terroranschlägen, Flugzeugabstürzen oder Kindesentführungen, statt vor größeren Gefahren wie Verkehrsunfällen, Rauchen oder Übergewicht, die im Schnitt viel mehr Lebenjahre kosten. Mit fast 40 Prozent sind Herz-Kreislauf-Erkrankungen die häufigste Todesursache in Österreich – und ließen sich durch Veränderung im Lebensstil vermeiden.

Die typischen Helikoptereltern schützen ihre Kinder vor allen sichtbaren Gefahren und merken nicht, wenn sie tatsächlich in Schwierigkeiten geraten. Dabei stößt nur ganz wenigen Kindern auf dem Schulweg etwas zu, und Entführungen à la Natascha Kampusch sind höchst unwahrscheinliche Einzelfälle. Dennoch nimmt die Zahl der Kinder, die unbegleitet in die Schule gehen, ab. Aus einer verfehlten Suche nach Sicherheit werden immer mehr SUVs gekauft, die das Verletzungsrisiko bei Unfällen kaum reduzieren, dafür aber die Klimakrise verschärfen.

Nur wenige Österreicher investieren in Aktien, weil sie die Börse für zu riskant halten. Sie lassen das Geld auf zinsenlosen Sparbüchern liegen, wo es garantiert weniger wert wird, und fallen dann auf betrügerische Anlagemodelle herein, die ihnen phänomenale Renditen versprechen. Das Grundprinzip der Geldanlage, dass höhere Gewinne nur mit mehr Risiko möglich sind, wird nicht verstanden oder bei verlockenden Angeboten vergessen. Wer nach der Lehman-Pleite 2008 seine Ersparnisse von der Bank abhob und nach Hause trug, handelte sich das größte finanzielle Risiko überhaupt ein: dass das Bargeld gestohlen oder geraubt wird.

Hier sollte die Politik gegensteuern, sagt Schrager, die für den Thinktank Manhattan Institute in New York arbeitet. Die Corona-Krise mit ihren Ambiguitäten biete dafür einen guten Anlass. "Die Regierungen sollten den Menschen zu verstehen helfen, wie man mit Risiko lebt, anstatt nur zu sagen: Wie werden euch schützen", sagt sie.

Hedgen oder Versichern

In ihrem Buch beschreibt die Ökonomin zwei Strategien zur Risikominimierung in der Finanzwelt, die auch für den Alltag gelten: Hedging und Versicherungen. Beim Hedging gibt man einen Teil der potenziellen Gewinne auf, um Verluste zu begrenzen. Das tun Fluglinien, wenn sie sich den Kerosinpreis auf ein Jahr voraus sichern, oder Besitzer einer Ölheizung, die frühzeitig ihre Tanks füllen.

Bei einer Versicherung zahlt der Kunde einen – oft hohen – Fixbetrag an eine Gesellschaft, die dafür das Risiko übernimmt. Sie kann das tun, weil sie viele Einzelrisiken bündelt und damit das eigene Verlustpotenzial begrenzt. Der Versicherungsnehmer hat den Vorteil, dass er nach oben hin seine Gewinne nicht begrenzt.

"In der Corona-Krise haben wir beides gesehen", sagt Schrager. "Wir haben zunächst auf viele wirtschaftliche Tätigkeiten verzichtet, um die Zahl der Toten zu beschränken. Das war eine Hedging-Strategie. Und nun brauchen wir eine Versicherung gegen den wirtschaftlichen Kollaps und zur Rettung der Unternehmen. Aber das kann keine private Versicherung leisten, die sind nicht groß genug. Das kann nur der Staat, weil er Schulden auf die Zukunft aufnehmen kann."

Für ihr eigenes Leben während des Shutdowns in New York, der bisher kaum gelockert wurde, hat Schrager verschiedene Risiken gegeneinander abgewogen. Sie sei viel spazieren gegangen, aber habe die U-Bahn gemieden, weil es dort zu eng sei. "Sobald es wieder möglich ist, gehe ich wieder ins Café und treffe Freunde", sagt sie. Die Menschen in Österreich können diese ganz persönliche Entscheidung für mehr oder weniger Risiko bereits treffen. (Eric Frey, 16.5.2020)