Am Samstag demonstrierten unter anderem in Berlin zahlreiche Demonstranten gegen die Einschränkungen des öffentlichen Lebens. Ging die Politik mit den Maßnahmen tatsächlich zu weit?
Foto: imago images, Emmanuele Contini

Heute wurde in vielen Orten in Deutschland gegen die Einschränkungen des öffentlichen Lebens demonstriert. Ein nicht so geringer Teil der Bevölkerung – aber keinesfalls die Mehrheit – findet die Maßnahmen der deutschen Regierung gegen Covid-19 aus verschiedenen Gründen übertrieben. Nicht nur Verschwörungstheoretiker argumentieren, dass man die Pandemie durch weniger rigorose Maßnahmen in den Griff gekriegt hätte. Diese Meinung hat in den letzten Tagen und Wochen auch in Österreich mehr Zuspruch erhalten.

War der Lockdown angesichts der pandemischen Entwicklungen also überzogen? Deutsche Wissenschafter rund um die Physikerin Viola Priesemann, Forschungsgruppenleiterin am Max-Planck-Institut für Dynamik und Selbstorganisation in Göttingen, gingen dieser Fragen nach, indem sie nachträglich überprüften, wie sich die deutschen Maßnahmen zur Eindämmung des Virus, die jeweils ein paar Tage nach den österreichischen erfolgten, auf das Infektionsgeschehen auswirkten.

Chronologie der Maßnahmen ...

Konkret ging es um die Beurteilung folgender drei Einschränkungen, die chronologisch am 8. März begannen: An diesem Tag wurden als erste Maßnahme alle Großveranstaltungen abgesagt; am 15. März schlossen dann als zweite Maßnahme Schulen, Universitäten und die meisten Geschäfte, und am 22. März einigte man sich auf strenge Regeln zur Kontaktbeschränkung.

Waren insbesondere die Einschränkungen bei den Kontakten noch nötig? Eine Studie des Robert-Koch-Instituts kam ja zum Schluss, dass die Reproduktionszahl schon kurz zuvor auf unter 1 gesunken war, was eher gegen die weiteren Verschärfungen spricht. Denn eine Reproduktionszahl von 1 oder darunter bedeutet kein Wachstum bei den Infektionen.

Priesemann und ihr Team ermittelten im renommierten Fachblatt "Science" auf Basis aller vorliegenden Daten zum Infektionsgeschehen und mittels komplexer Modellrechnungen und nun allerdings etwas andere Zahlen, die sich mit entsprechenden Anpassungen wohl auch relativ gut auf Österreich übertragen lassen.

... und ihre jeweilige Wirksamkeit

Die Göttinger Forschern gingen bei ihren Simulationen davon aus, dass die Wirksamkeit der Maßnahmen mit einer Verzögerung von rund zwei Wochen sichtbar wird – einerseits aufgrund der Inkubationszeit, andererseits aufgrund der Dauer bis zum Testergebnis. Dabei zeigte sich, dass durch die drei Maßnahmen die Reproduktionszahl jeweils um rund 40 Prozent gesenkt werden konnte.

Konkret reduzierte die Untersagung von Großveranstaltungen die Reproduktionszahl R0 von 3,4 (bei einem Wachstum von 30 Prozent) auf 1,96 (bei 12 Prozent Wachstum). Die zweite Maßnahme der Schließungen verminderte den Wert R0 auf 1,16 – was immer noch ein leichtes Wachstum von zwei Prozent bedeutete. Die entscheidende Erkenntnis der Studie: Erst durch die strengeren Maßnahmen der Kontaktbeschränkung konnte der Wert unter 1 (konkret etwa 0,76) gedrückt werden (Wachstum von minus 3 Prozent), wo er in Deutschland bei leichten Schwankungen bis heute ist.

Wichtigkeit des Zeitpunkts

Essentiell sei laut den Forschern auch der Zeitpunkt der Maßnahmen gewesen: Hätte man sich in Deutschland nur fünf Tage länger Zeit gelassen, wären die nachgewiesenen Neuinfektionen auf Werte von bis zu 30.000 pro Tag emporgeschnellt.

Grafik A veranschaulicht, wie welche Auswirkungen die Maßnahmen am 16. März je nach Strenge auf die Zahl der neuen Infektionen und der Gesamtinfektionen gehabt hätten. Grafik B zeigt, wenn diese Maßnahmen fünf Tage früher bzw. fünf Tage später erfolgt wären.
Grafik: Priesemann et al., Science 2020

Das Resümee aus der Studie eindeutig und widerlegt Verschwörungstheoretiker und all jene, die das Vorgehen der Politik für übertrieben halten: Zumindest laut diesen wissenschaftlichen Modellrechnungen kamen die deutschen Maßnahmen des öffentlichen Lebens erstens zum richtigen Zeitpunkt und erfolgten zweitens auch mit der richtigen Strenge. (tasch, 16.5.2020)