Die aktuelle Corona-Krise zeigt uns dramatisch, dass Gesellschaften in Ausnahmesituationen gegen Schocks anfällig sind. Im Globalisierungsprozess der letzten Jahrzehnte wurden die Lieferketten immer internationaler und komplexer. Medizinische Geräte und Medikamente werden zunehmend in Ländern wie China oder Indien produziert und können, wie in der jetzigen Situation, mitunter ausfallen. Die aktuelle Unterbrechung dieser Ketten führt uns vor Augen, dass die starke Orientierung an geringen Produktionskosten sowie eine entsprechend zunehmende internationale Arbeitsteilung nicht unproblematisch sind.

Der Träger des Wirtschaftsnobelpreises und ehemalige Chefökonom der Weltbank, Joseph Stiglitz, schlug kürzlich eine verstärkte "Deglobalisierung" vor. Damit meint er nicht einen neuen Protektionismus à la Donald Trump, sondern eine partielle Reorientierung auf lokale und regionale Wirtschaftskreisläufe. In Bereichen wie der Landwirtschaft und Nahrungsmittelproduktion ist das unmittelbar einsichtig. Dies wird aktuell auch von der österreichischen Regierung angeregt. Ökologisch wäre zudem geboten, die Chancen der Krise zu nutzen, etwa den Flugverkehr und die Produktion und Nutzung von Automobilen drastisch zurückzubauen.

Hinter dem Globalisierungsprozess stehen profitorientierte Unternehmen, aber auch eine Politik der Freihandels- und Investitionsschutzabkommen. Doch das Problem geht tiefer: Es ist die Logik der auf Wirtschaftswachstum getrimmten Gesellschaften. Auch staatliche Einnahmen und Arbeitsplätze korrelieren stark mit einer expandierenden Ökonomie, die findet ihre Entsprechung in den Alltagsorientierungen vieler Menschen, in den westlichen Konsumgesellschaften und in den zu Wohlstand kommenden Mittelschichten der Schwellenländer. Diese Konstellation bezeichne ich gemeinsam mit Markus Wissen als "imperiale Lebensweise".

Wachstum ist nicht gleich Wohlstand

Die Corona-Krise aktualisiert eine Frage, die bereits seit einigen Jahren diskutiert wird: Was bedeuten Wohlstand und Lebensqualität? Geht es dabei nur um ein immer weiter wachsendes Sozialprodukt, egal zu welchen ökologischen und sozialen Kosten? Die Antwort auf die zweite Frage lautet Nein und differenziert sich dann aus.

Was ist Wohlstand?
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Wie kann aus dem aktuellen change by desaster eine resilientere Wirtschaft entstehen, die sich nicht nur am Wachstumsparadigma orientiert? In der Nachhaltigkeitsforschung wird eher von einem sozial-ökologischen Umbau im Sinne von change by design gesprochen.

Die Frage ist nicht neu: Das enge Wohlstandsverständnis wurde in den letzten Jahren zunehmend von der Politik thematisiert. Die EU-Kommission startete 2007 einen Prozess, um andere Indikatoren neben dem Wirtschaftswachstum zu bilden, die soziale und ökologische Dimensionen von Wohlstand abbilden. Der ehemalige französische Präsident Nicolas Sarkozy setzte eine hochrangige Kommission zum Thema ein, der Deutsche Bundestag wenig später eine Enquete-Kommission mit dem Titel "Wachstum, Wohlstand, Lebensqualität". Die Arbeiterkammer Wien erstellt seit 2018 einen jährlichen "Wohlstandsbericht".

Ein Strang der Diskussion um ein anderes Wohlstandsverständnis "jenseits" der Fixierung auf ein wachsendes Bruttoinlandsprodukt kommt aus der Wissenschaft und aus sozialen Bewegungen. Er firmiert unter dem Begriff Degrowth, Postwachstum.

Die Perspektive des Postwachstums – so schreibt der Jenaer Soziologe Dennis Eversberg – "problematisiert im Kern die technologisch und institutionell gestützte Eskalationslogik der Gesellschaften des globalen Nordens". Notwendig sei ein qualitativer sozial-ökologischer Umbau der Produktions- und Lebensweise, der nicht mehr den kapitalistischen Wachstumsimperativen ausgeliefert ist.

Corona-Krise stärkt Alltagsökonomie

Auf der normativen Ebene haben sich als Konsense der inzwischen breit ausdifferenzierten Diskussion folgende Ziele herausgebildet: eine globale ökologische Gerechtigkeit, die demokratische Gestaltung der Gesellschaft und eine Ermöglichung von Selbstbestimmung sowie eine systemische Wachstumsunabhängigkeit der Wirtschaft. Matthias Schmelzer und Angelika Vetter nennen in ihrem kürzlich erschienenen Einführungsbuch zum Thema unterschiedliche Strategien und konkrete Schritte, die in vielen Forschungen als Bedingung für eine Gesellschaft jenseits ökonomischer Wachstumszwänge herausgearbeitet wurden: Beispielsweise der Rück- und Umbau von Produktion, um sie gerecht und demokratisch zu gestalten, die Stärkung von solidarischer Ökonomie sowie der Erhalt und die Ausweitung der Commons, die Neubewertung und -verteilung von Arbeit, existenzsichernde soziale Sicherungssysteme, Umverteilung von oben nach unten und Maximaleinkommen. Das entspricht dem in der Corona-Krise prominent gewordenen Begriff der "Alltagsökonomie", also einer guten Daseinsvorsorge als zentraler wirtschaftlicher und wirtschaftspolitischer Aufgabe.

Dennoch bleibt der Begriff Postwachstum als politisches und wissenschaftliches Label bisher auf einen überschaubaren Kreis begrenzt und hat eher kleinere Projekte wie etwa Bildungsarbeit, Praxen solidarischer Ökonomie oder Tauschringe im Fokus. Doch es stellt sich gerade aus politikwissenschaftlicher Sicht die Frage, wie gute Lebensbedingungen autoritativ abgesichert werden und welche Rolle dabei staatliche und internationale Politik spielt. Es bedarf daher einer intensiven Debatte (und entsprechende Forschungen) über die Rolle des Staates beziehungsweise von angemessenen Governance-Strukturen im sozial-ökologischen Umbauprozess. Diese und andere Fragen werden über Pfingsten auf einer internationalen Konferenz zum Thema Postwachstum diskutiert. Das Treffen sollte an der Universität Wien stattfinden, wird nun aber online ausgetragen. (Ulrich Brand, 22.5.2020)