Innenminister Karl Nehammer (rechts) hat bei einer Pressekonferenz am Montag einmal mehr die Stadt Wien attackiert.

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Der Zwist über das Management der Corona-Krise zwischen Bund und Wien hat am Montag eine neue Stufe erreicht. Innenminister Karl Nehammer (ÖVP) sprach in einer eigens einberufenen Pressekonferenz eine "Mahnung" an Wien aus: Die Stadt solle die Zusammenarbeit und Kommunikation mit dem Einsatzstab des Innenministeriums verbessern und Hilfsangebote der Polizei beim Contact-Tracing in Anspruch nehmen. Über 60 Prozent der Neuinfizierten kämen seit Anfang Mai aus Wien. Insgesamt wurden in den vergangenen 14 Tagen 374 neue Fälle registriert. In Relation zur Bevölkerung liegt Wien damit im Bezirksvergleich an fünfter Stelle.

Gesundheitsminister Rudolf Anschober (Grüne) mahnte am Montagabend in einer Aussendung zu Zusammenarbeit statt "Streitereien", gerade angesichts des aktuellen Wien-Niederösterreich-Clusters.

Bereits am Wochenende kam es zu gegenseitigen Vorwürfen. Hintergrund ist, dass das Bundesheer in einem Postverteilungszentrum in Hagenbrunn (Bezirk Korneuburg) Packerln sortiert, weil alle 300 ansässigen Mitarbeiter in Heimquarantäne geschickt wurden. Im Logistikzentrum wurden 63 Infektionen bei dort tätigen Wiener Arbeitern festgestellt. Weil einige der in Hagenbrunn tätigen Leiharbeiter in einem Asylheim in Wien-Erdberg leben, entspann sich eine Debatte über das Krisenmanagement der Stadt Wien. Auch in einem Verteilzentrum in Wien-Inzersdorf gibt es 70 Infektionen. Hier wurde laut Post ebenso um Unterstützung durch das Bundesheer angesucht. Die Stadt verortet den Ausgangspunkt allerdings nicht in Erdberg, sondern in Hagenbrunn. Dieser Annahme widerspricht wiederum die Landessanitätsdirektion Niederösterreich. Laut ihr reiste der "Patient null" von Wien nach Niederösterreich.

Wien verteidigt sich

Dass es in Wien zu "einem scheinbar sprunghaften Anstieg" komme, hänge damit zusammen, dass eben ausreichend getestet werde, heißt es seitens des Büros von Gesundheitsstadtrat Peter Hacker (SPÖ). Und weiter: Da zusätzlich Kontaktpersonen getestet werden, würden auch symptomlose Fälle entdeckt. Alle neu aufgetretenen Fälle habe man den "Cluster-Settings Haushalt, Arbeitsstätte und Unterkunft für Asylsuchende" zuordnen können. Rund 400 Personen befinden sich um diesen Cluster derzeit in Quarantäne.

Etwa 1.000 Tests seien bisher im Flüchtlingsbereich durchgeführt worden. Sieben neue Fälle wurden dadurch am Montag in einer anderen Flüchtlingsunterkunft in Mariahilf entdeckt. Zudem plädiert Hacker für eine Diskussion über die prekären Arbeitsbedingungen in der Leiharbeit. Das gleiche fordert Wiens Vizebürgermeisterin Birgit Hebein (Grüne) ein: Man solle über die "soziale Dimension" der Neuerkrankten sprechen.

Was die Kommunikation betrifft, arbeite man laut Hacker "bestens" mit dem Gesundheitsministerium zusammen.

Unterschiedliche Signale

Die aktuelle Auseinandersetzung um Wien führt offenbar auch zu Spannungen innerhalb der Bundesregierung. Denn sowohl Gesundheitsminister Rudolf Anschober als auch Vizekanzler Werner Kogler (beide Grüne) stellten sich auf die Seite der rot-grünen Stadtregierung: Kogler hat den Eindruck, dass Hacker die Testungen "ganz genau verfolgt." Anschober sieht einen guten Informationsaustausch mit der Stadt Wien, es gebe jeden Vormittag eine Videokonferenz mit den Ländern: "Ich gehe davon aus, dass das korrekt auch seitens von Wien passiert und es einen guten Meinungs- und Informationsaustausch gibt."

Aus Sicht Anschobers gibt es zudem "keine Causa Wien", denn auch Niederösterreich sei betroffen. Infektionscluster seien zu erwarten gewesen, wichtig sei nun schnelles Containment. Bürgermeister Michael Ludwig (SPÖ) forderte, dass die Regierung "in Zeiten einer Krise klar und mit einer Stimme kommuniziert". Alles andere sei verunsichernd für die Bevölkerung. Auch ein Sprecher Hackers schlägt vor, dass die Regierung sich zuerst einmal intern einig werden solle.

Knapp 10.000 Quarantäne-Bescheide wurden seit Beginn der Krise bisher von der Gesundheitsbehörde in Wien ausgestellt, wie Hackers Büro auf STANDARD-Anfrage mitteilt. Darunter sind auch jene knapp 180 Personen, die am Samstag aufgrund eines positiven Testergebnisses eines Bewohners nun in einer Obdachlosenunterkunft in Quarantäne sitzen. Ein üblicher Vorgang: So würde etwa auch in Salzburg in so einer Situation ähnlich verfahren werden. Trete ein Verdachtsfall auf, würden die Menschen in ein Quarantänequartier gebracht werden.

Im Wiener Heim dürfte es zu heiklen Situationen gekommen sein. Unter den Betroffenen befinden sich auch Suchtkranke. Deren medizinische Versorgung sei sichergestellt, heißt es seitens des medizinischen Krisenstabs in Wien. Eine Person ist laut STANDARD-Informationen aus dem Fenster gesprungen. Der Sprecher des Krisenstabs bestätigt den Vorfall, spricht aber davon, dass die Person "geklettert und dann gestürzt" sei. Die Person sei verletzt und befindet sich, ebenso wie die infizierte Person, im Krankenhaus.

397 Soldaten helfen nun am Postzentrum in Hagenbrunn
DER STANDARD

Was den Bundesheer-Einsatz betrifft, will der Grüne David Stögmüller nun eine Anfrage an das Verteidigungsministerium einbringen. Hintergrund ist die Kritik an der Unterbringung in einer Halle, die in einem Kommentar im STANDARD-Forum geschildert wurde: Grundwehrdiener müssten auf Liegestühlen schlafen, und es gebe nur vier Duschen für 250 Soldaten.

Reproduktionszahl der Coronavirus-Ansteckungen wieder angestiegen

Die effektive Reproduktionszahl der Coronavirus-Ansteckungen ist nach einer am Montagabend veröffentlichten Modellrechnung der Agentur für Gesundheit und Ernährungssicherheit (Ages) zuletzt wieder gestiegen. Die geschätzte tägliche effektive Reproduktionszahl war für Österreich seit 4. April kleiner als Eins und ist für den 15. Mai mit 1.07 wieder größer als Eins.

Eine effektive Reproduktionszahl unter dem Wert von Eins sagt aus, dass die Infektionen im Abnehmen sind. Der nun erfolgte Anstieg dürfte nach derzeitigem Wissensstand auf den Cluster in den Postverteilerzentren in Niederösterreich und Wien zurückzuführen sein. Dies erscheint angesichts der mittlerweile deutlich gesunkenen Fälle übermäßig dramatisch. In einigen Bundesländern gab es über Tage keine einzigen neuen Corona-Infektionen. Werden hier wenige neue Fälle festgestellt, erscheint eine "Steigerungsrate" nur artifiziell "dramatisch". (Vanessa Gaigg, Stefanie Ruep, 18.5.2020)