Im Gastkommentar weist Europarechtsexperte Stefan Brocza darauf hin, dass ein EU-Vertragsverletzungsverfahren keine Lösung wäre.

Einen "Affront" nannte Werner Schroeder das jüngste Urteil des deutschen Bundesverfassungsgerichts (BVerfG) in Karlsruhe. Eine simple "Rechthaberei". Ebenfalls im STANDARD sprach Adam Tooze von einem "konservativen Bauernaufstand", und Theo Öhlinger bezeichnete es in der Krone als "lächerlich".

Was hat das BVerfG eigentlich Schlimmes gemacht? Es hat Recht gesprochen. Basierend auf der deutschen Verfassung – dem Grundgesetz – hat man es gewagt, das EuGH-Urteil zum EZB-Anleihekaufprogramm nicht zu akzeptieren. Karlsruhe bescheinigt sowohl dem EuGH als auch der EZB eine offensichtliche Überschreitung ihrer jeweiligen Mandate.

Was hat das BVerfG eigentlich Schlimmes gemacht?
Foto: APA / AFP / Uli Deck

Damit rüttelt der BVerfG an zwei Grundsätzen: dem "Primat des Europarechts" und der alleinigen Zuständigkeit des EuGH, Europarecht auszulegen. Dabei muss man aber bedenken, dass die EU keine "Allzuständigkeit" wie ein Staat hat. Vielmehr muss sich für jede Entscheidung mit Wirkung auf einen Mitgliedstaat eine ausdrückliche Kompetenzgrundlage im Europarecht finden.

Wo so eine Grundlage fehlt, handelt die EU "ultra vires", und die jeweilige Handlung ist rechtswidrig. Strittig ist, wer darüber entscheiden darf, ob solch eine Rechtswidrigkeit vorliegt. Der EuGH nimmt diese Befugnis für sich in Anspruch, aber ebenso verschiedene Höchstgerichte einzelner EU-Mitgliedstaaten. Nun hat also das deutsche Verfassungsgericht diese Kompetenz für sich in Anspruch genommen.

Absehbares Gewitter

Warum also gerade das Geschrei und Gezeter darüber? Weil man es hätte kommen sehen können. Schon seit Jahren braute sich das Gewitter zusammen, es war nur noch eine Frage der Zeit, bis es sich entlädt. Nun ist es passiert, und die Kritiker rufen: Unerhört, wie kann man nur! Was erlaubt sich Deutschland, auch noch "zur Unzeit", so ein Urteil zu erlassen!

Abgesehen davon, dass es wohl niemals den "richtigen Zeitpunkt" für ein Gerichtsurteil gibt, das allen Beteiligten gerade in den Kram passt: Für den nun eingetretenen Konfliktfall gibt es keine rechtliche Lösung. Die sich widersprechenden Urteile von EuGH und BVerfG sind einzig und allein politisch zu lösen. Da hilft auch nicht die Androhung eines EU-Vertragsverletzungsverfahrens. Das würde die Lage nur noch verschärfen.

Voßkuhles Rolle

Erstaunlich auch, mit welcher Nonchalance man dem BVerfG und seinem Präsidenten Andreas Voßkuhle jetzt jegliches Verständnis von Europarecht abspricht. Immerhin ist er seit Jahren Mitglied im Artikel-255-Ausschuss der EU. Das ist jenes Gremium erlauchter Persönlichkeiten, die über die Qualifikation künftiger EuGH-Richter entscheiden, bevor sie ernannt werden. Vielleicht sollte man auch diese Tatsache mitbedenken, bevor man wieder "Affront" und "lächerlich" schreit, nur weil einem ein Urteil nicht ins Weltbild passt. (Stefan Brocza, 19.5.2020)