Im Gastkommentar fordert Bildungswissenschafter und Psychoanalytiker Josef Christian Aigner mehr Wertschätzung und höheres Einkommen für alle systemrelevanten Berufe. Große Versäumnisse der Grünen ortet er auch im kulturellen Bereich.

Unabhängig von der mehr oder weniger dirigistischen Selbstgefälligkeit der Regierung zur Eindämmung des Virus hat die Corona-Krise eine ganze Reihe von Unzulänglichkeiten des Gesellschaftssystems, in dem wir leben, erst so richtig sicht- und spürbar gemacht. Das betrifft zunächst einmal die bisher kaum geschätzten beruflichen Tätigkeiten, die bisher am untersten Ende unserer Anerkennungspyramide standen: Supermarktverkäuferinnen, Kassierinnen, Regaleinräumer, Bedienstete der Müllabfuhr oder Reinigungskräfte, die alles fein säuberlich desinfizieren.

Nun sind sie auf einmal "Heldinnen und Helden des Alltags", aber dennoch am unteren Ende der Einkommensskala. Regierungsmitglieder dankten ihnen auf deren nicht ganz uneigennützigen Medienshows artig für ihren Dienst an der Gemeinschaft. Die euphorische Idee, ihnen mehr Anerkennung auch in Form von höheren Gehältern zu gewähren, war aber nach einmaligen Bonuszahlungen schnell wieder verflogen.

Supermarktangestellte freuen sich in der Corona-Krise über Wertschätzung als "Heldinnen und Helden des Alltags". Besserer Entlohnung gegenüber wären sie aber sicherlich auch nicht abgeneigt.
Foto: Robert Newald

Billige Arbeitskräfte

Dann die osteuropäischen Frauen, die per Sonderzug nach Österreich gebracht werden müssen, weil wir sie in der 24-Stunden-Betreuung so dringend brauchen: Abgesehen davon, dass ihre Arbeitsbedingungen gar nicht die Zufriedenheit der betreuten alten Menschen widerspiegeln, zeigt sich hier auch, wie abhängig wir aufgrund der unter Kanzler Wolfgang Schüssel "gedealten" Regelung von vergleichsweise billigen ausländischen Arbeitskräften sind. Die Lohn- und Arbeitsbedingungen in Osteuropa weidlich ausnutzend, wird hier nicht nur so getan, als ob das quasi ein Naturgesetz wäre, sondern es bleibt auch bei der türkisen Härte, diesen Frauen weiterhin ihre Kinderbeihilfen zu kürzen.

Ähnlich ist es bei den Erntehelfern: Einst sicher nicht aufgrund überschwänglicher Ausländerfreundlichkeit, sondern wegen Billigkeit und Willigkeit engagiert, sind sie nun eingelernt (als ob der günstige Lohn keine Rolle spielte), und man betreibt einen beträchtlichen Aufwand, um sie per Ausnahmeregelung ins Land zu befördern. Was, wenn auch die Hoteliers dies für ihre ausländischen Billigarbeitskräfte fordern?

Schließlich die Pflege sowie die Alten- und Kinderbetreuung: Pflegerinnen und Pfleger können sich von Anerkennungsbekundungen derzeit kaum retten, dennoch bleibt substanzielle Anerkennung durch materielle Besserstellung diskret ausgeblendet. Dasselbe gilt für jene, die an den Krisenherden schlechthin, in Altenheimen, ihr Tagwerk verrichten: Angefangen von ausreichender Schutzkleidung bis hin zu spürbarer Aufwertung derjenigen Berufe, die entlang der sich verändernden Alterspyramide zukünftig von enormer Bedeutung sein werden, tut sich erstaunlich wenig.

Anspruchsvolle Tätigkeit

Dies trifft auch auf die Kindergartenpädagoginnen und wenigen -pädagogen zu: Über einen gerade noch verkraftbaren Zeitraum hinaus, in dem Eltern – vor allem wohl Mütter – die tagtägliche Betreuungs- und (Bildungs-?)Arbeit unentgeltlich übernommen haben, würden ohne die Kindergärten zumindest alle jene Räder stillstehen, an denen Frauen beruflich drehen – und damit wohl die Wirtschaft um ihr genderpolitisch billigeres Personal gebracht werden.

Diese enorme Bedeutung aller Kinderbetreuungs- und -bildungseinrichtungen für Gesellschaft und Wirtschaft steht ebenfalls mit der Wertschätzung des Fachpersonals in Form besserer Entlohnung in krassem Widerspruch. Denn nach wie vor rangieren die Elementarpädagoginnen und -pädagogen trotz ihrer anspruchsvollsten erzieherischen Tätigkeit am unteren Ende aller pädagogischen Berufe. Und jedes Mal – und das wird auch nach Corona so sein – schreien die Gemeindeverbandsoberen auf, wenn es um eine Besserstellung des Kindergartenpersonals geht.

Keine Spendierhosen

Schließlich entlarvte Corona auch den im Grunde gering veranschlagten Wert der Kultur bei den Regierungsspitzen. Was Ulrike Lunacek und Parteichef Werner Kogler zu verantworten haben: Wochenlang hört man nichts von der Staatssekretärin, dann eine vor Unkenntnis triefende Presseerklärung, und bis heute lässt man Kulturveranstalter völlig im Unklaren, wann es wie weitergeht.

Und während alles an Proben und Aufführungen im Kulturbereich untersagt bleibt, darf der Fußball wieder rollen. Die Bemühungen um den Fußball waren jedenfalls unvergleichlich höher. Dies kann nicht nur der Staatssekretärin angelastet werden: Offenbar scheint der türkise Finanzminister seine Spendierhose bei den kleineren Kulturveranstaltern (sicher keine Stammwählergruppe) vergessen zu haben, was die Zurücktretende aber nicht laut sagen durfte.

Grüne Selbstverleugnung

Denn die Krise spitzt deutlicher als zuvor ein grundsätzliches Problem gegenwärtiger politischer "Kultur" zu: Die Koalitionspartner dürfen krisenbedingt nämlich weniger denn je "streiten", was heißt, dass der Kleinere, die Grünen, alles mitmachen muss: die x-te Selbstvermarktung per Pressekonferenz, den Verzicht auf eigene naheliegende Anliegen wie die Millionärssteuer, die Selbstverleugnung bei der Hilfe für ein paar hundert Flüchtlingskinder, was von vielen Menschen gerade jetzt als eine europäische Schande erlebt wird. Nicht zu vergessen auch die Verbiegung der Tiroler Grünen, die angesichts der zur europäischen Lachnummer gewordenen Tiroler Gesundheitspolitik jeden Maulkorb akzeptieren, wogegen sie sonst vehement aufgeschrien hätten!

Da fragt es sich: Ist eine derartige Selbstverleugnung wirklich notwendig? Gerade im Sinne des Wiederaufbaus von Wirtschaft und Kultur und der humanitären Sorge im Sozialbereich bräuchte das Land "das Beste aus beiden Welten", nicht nur aus der türkisen. Eine Knebelkoalition, in der der kleinere Partner "seine Welt" der Message-Control opfern muss, sollte einem offenen transparenten Diskurs – das ist etwas anderes als "Streiterei" – weichen. Wäre das nicht eine Chance gegen die Misere koalitionärer Selbstzensur und Unglaubwürdigkeit? (Josef Christian Aigner, 18.5.2020)