Schadenfreude bleibt nur selten aus, wenn gescheite Menschen sich irren. Tief, allzu tief sitzen die Kränkungen, die uns die Schule des Lebens zugefügt hat – der Hohn, mit dem unseren eigenen Missgeschicken täglich begegnet wurde und wird. Wie schön, es all den Oberlehrerinnen und Oberlehrern endlich einmal mit gleicher Münze heimzahlen zu können. Freuen wir uns nicht alle insgeheim irgendwie, dass selbst der doch ach so schlaue Sokrates dumm genug war, den Schierlingsbecher zu ergreifen und zu leeren (berühmte letzte Worte: “Moment, was bitte habe ich da eben getrunken…?”), anstatt die angebotene Flucht zu ergreifen?

Sokrates. Ich weiß, dass ich nichts weiß. Was für ein Einfaltspinsel, oder? Und wo wir schon beim Fehlerverbessern sind: Ich weiß, dass ich nichts weiß? Das ist doch auch so ein Ding. Hat er doch nie gesagt oder gemeint, das weiß ja sogar Wikipedia. Ist ein Übersetzungsfehler. Cicero, noch so ein antiker Schlaumeier, der da das Griechische oida ouk eidōs einfach mal falsch wiedergegeben hat. Oida. Herrlich, oder? Diesen nervigen Besserwissern mal beim Versagen zuzuschauen?

Obwohl: Oida ouk eidōs, ich weiß, dass ich nicht (!) weiß, dass ich eben nicht im Vollbesitz des Wissens bin? Ist ja eigentlich irgendwie ein entwaffnend ehrliches Statement des athenischen Jugendverderbers und Nervsacks vom Dienst, oder? Dem will man ja schon beinahe, wiewohl widerwillig, beipflichten. Schön, wenn mal jemand seine Grenzen erkennt. Und es auch noch in einem Moment der Schwäche eingesteht.

Wäre schön, wenn das noch mehr Menschen mal täten.

Coronakrise

Die Ängste sind groß und diffus – und berechtigt. Die Fakten, die Daten sind besorgniserregend. Weltweit wird – darf man sagen: fieberhaft? – nach Lösungen gesucht. Während die Politik weltweit in längst überwunden geglaubte Kleinstaaterei und in Isolationismus zurückverfällt, arbeiten Forscherinnen und Forscher weltweit und in internationaler Zusammenarbeit mit Hochdruck an Lösungen. Es ist komplex, schwierig, kontrovers. Die Daten und Fakten werden immer klarer. Aber was sagen sie uns? Welche Schlüsse lassen sie zu?

Auftritt: die heilige Dreieinfältigkeit aus wissenschaftlichem Infighting, politischer Selbstdarstellung und journalistischem Wunsch nach reißerischer Zuspitzung.

Über Jahrzehnte sind die "Laberfächer", die "weichen" Geisteswissenschaften dafür herabgesetzt worden, dass sie alles in Grund und Boden diskutieren, nicht auf harten Fakten beruhen. Verächtlich gemacht von Politikerinnen und Politikern mit Sparzwängen und existentiellen Ängsten vor bohrenden Fragen und herausfordernder Diskussion. Ein wohlfeiler Buhmann, nur mit sich selbst befasst.

Stiefmütterlich behandelt im übrigen auch von den Naturwissenschaften im zynischen Wettbewerb um den warmen Geldregen der kompetitiven Forschungsförderung.

Nur dass man jetzt plötzlich merkt, dass bei einem Mangel von Plätzen auf der Intensivstation ethische, nicht naturwissenschaftliche Fragen zu diskutieren sind, wenn es darum geht, wer überleben darf und wer nicht. Nur dass man jetzt eben merkt, dass auch in den Naturwissenschaften Daten und Fakten zu interpretieren sind, im Wettbewerb von These und Antithese, hin zur Synthese. Genau wie in den Geisteswissenschaften. Dass eben nicht alles eindeutig ist. Genau wie in den Geisteswissenschaften.

Corona wos?
Foto: REUTERS/Mike Segar

Science

Die über Jahrzehnte öffentlich propagierte (Natur-)Wissenschaftshörigkeit der Politik beginnt zu zerbröseln. "We follow the science", entblöden sich die Mächtigen nicht, immer wieder öffentlich zu verkünden. Ja? Wirklich? Schön. Und wer ist Science? Denn da gibt’s ja offenbar widersprüchliche Standpunkte. Was gut ist: Sonst wär’s nämlich nicht Science sondern Vorschule.

Mit fatalem Effekt: Die Studien, denen gefolgt wird (oft mit gutem Grund), sind eben nur ein Element einer dynamischen Debatte, die von essentieller Bedeutung ist. Nur, dass, wenn man dies nicht immer und immer wieder öffentlich anerkennt, sondern Science zum Absolutum erklärt, irgendjemand die Studien, die im Widerspruch dazu stehen, herausziehen wird, und dann – "The Matrix" hat uns für immer verdorben! – die Verschwörungstheorie in die Wege leitet: Die da oben sagen uns nicht die ganze Wahrheit.

Nein, tun sie nicht. Weil die ganze Wahrheit eh niemand kennt.

Wär halt gut, das einzugestehen, zu nuancieren, die Widersprüche offenzulegen und abwägend die eigenen Entscheidungen zu erläutern. Anstatt sich breitspurig hinzustellen und so zu tun, als ob Karl-Heinz Science persönlich die absolute Wahrheit verkündet habe.

Science.

Medien

Und dann der Journalismus. In dem alles plakativ und eindimensional sein muss. In dem stets "die Guten" (also die Leserinnen und Leser, die Hörerinnen und Hörer) von "den Korrupten und Bösen" hinters Licht geführt werden müssen, weil’s halt Auflage bringt. In dem Komplexität stets eingedampft werden muss, weil man ja der Öffentlichkeit nicht mit unnötigen Details zur Last fallen möchte.

Wird es eine zweite Coronawelle geben? War die erste überhaupt so schlimm? Ist Professor Drosten etwa doch nicht unfehlbar? Wir müssen und entscheiden: Wollen wir einfache, gefällige Antworten, die unsere Annahmen bestätigen? Dann bekommen wir eben dies. Oder wollen wir uns der Diskussion stellen, das Für und Wider abwägen, Wahrscheinlichkeiten abwägen? Dann ist’s komplizierter. Aber sicherer.

Wenn die Coronakrise eines gezeigt hat, dann dass es dringend nötig ist, ein breiteres Verständnis dafür herbeizuführen wie Wissenschaften – egal ob Geistes-, Sozial- oder Natur- – eigentlich funktionieren. Dass es eben keine Trennschärfe zwischen exakten und nicht-exakten, zwischen notwendigen und nichtnotwendigen Disziplinen gibt. Dass unser kollektiver Wissenserwerb und unsere kollektive Gesundheit, unser kollektives Überleben davon abhängt, an entscheidender Stelle nicht zu simplifizieren, nicht zu wurschteln. Dazu gehört der Wille, in Wissenschaft, Politik und Journalismus, Diskussion und Debatte als essentiell, nicht als lästig anzuerkennen.

Und die Grenzen des Wissens, unser grenzenloses Unwissen, anzuerkennen, hervorzukehren anstatt so zu tun, als sei eben alles ganz einfach, alles ganz klar.

Oida ouk eidōs. Ich weiß, dass ich nicht im Vollbesitz des Wissens bin. Dass ich mich mit anderen austauschen muss, im Wettstreit der Ideen, damit wir gemeinsam an der Komplettierung unseres Wissens arbeiten können.

Vielleicht war Sokrates doch nicht so ein Dussel? Und vielleicht sollten wir uns unsere Häme über wissenschaftliche Irrtümer ab und zu einmal etwas verkneifen, da auch kontroverse Sichtweisen, sofern offen zur Debatte gestellt, und sogar Irrtümer letztlich zur Lösung führen? Oida? (Peter Kruschwitz, 28.5.2020)

Peter Kruschwitz ist Berliner in Wien. Professor für Antike Kulturgeschichte. Liebhaber analoger Fotografie.