Einen Ausflug ins Grüne machen oder einmal ins Stadion gehen: Forscher wollen pflegebedürftigen Menschen personalisierbare Erlebnisräume zugänglich machen.

Foto: Joanneum Research

Viele Menschen haben in den vergangenen Wochen erstmals einen Eindruck davon bekommen, wie es sich anfühlt, sein Leben auf Dauer ausschließlich in den eigenen vier Wänden zu verbringen. Eine Erfahrung, die den Wert weitgehend unbegrenzter Bewegungsfreiheit ins Bewusstsein holt und die Vorfreude auf künftige Reisen schürt.

Für einen gar nicht so kleinen Teil der Bevölkerung kann die Aufhebung der Ausgangbeschränkungen allerdings nicht viel an ihrer eingeschränkten Situation ändern. Etwa für alte und/ oder an Demenz erkrankte Personen in Pflegeeinrichtungen, die während der Covid-19-Pandemie auch noch auf ihre Kontakte zur Außenwelt verzichten mussten. In dieser klein und einsam gewordenen Welt können Virtual-Reality-(VR-)Technologien neue Fenster zur Welt öffnen.

Im Projekt VR4Care beispielsweise arbeiten Forscher daran, für diese spezielle Zielgruppe personalisierbare virtuelle Erlebnisräume zu entwickeln. "Ein Problem bei Menschen in Pflegeheimen, vor allem bei Demenzbetroffenen, ist eine durch den Mangel an Anregungen im Alltag zunehmende Apathie", umreißt Projektleiter Lucas Paletta von Joanneum Research die Ausgangslage.

Virtueller Waldspaziergang

"Wir untersuchen in diesem von der Forschungsförderungsgesellschaft FFG unterstützen Projekt erstmals auf wissenschaftlicher Basis zentrale VR-Designparameter für Interaktionen in virtuellen Erlebniswelten, die bei dieser Zielgruppe stimmungsaufhellend, aktivierend und stressreduzierend wirken könnten."

Um mithilfe individuell angepasster Imaginationen die Befindlichkeit positiv zu beeinflussen, mussten in einem ersten Schritt grundlegende Informationen über Interessen und Vorlieben der künftigen VR-Anwender gesammelt werden. Zu diesem Zweck wurden unter Leitung der Pflegewissenschafterin Sandra Schüssler von der Medizinischen Universität Graz Bewohner einer steirischen Pflegeeinrichtung, deren Angehörige sowie das Pflegepersonal befragt.

Dabei stellte sich heraus, dass vor allem Spaziergänge in der näheren Umgebung, im Wald, im eigenen Garten oder im einst bewohnten Haus sehr positiv besetzt sind und angenehme Erinnerungen wachrufen.

Gendersensible Erhebung

Abgesehen von der Freude an der (umgebenden) Natur und an vertrauten, aber nicht mehr erreichbaren Orten, zeigten sich im Zuge der gendersensiblen Erhebung bei dieser Altersgruppe wenig überraschende Geschlechterunterschiede. So bevorzugen die Männer im Schnitt ganz klassisch etwa technische Themen oder Fußball, während sich die Frauen tendenziell eher über Mode, Inneneinrichtung und Ähnliches aktivieren lassen.

Aufgrund der Kontakteinschränkungen während der Pandemie musste die zunächst persönlich vor Ort durchgeführte Anforderungserhebung telefonisch erfolgen. "Das hat aber gut funktioniert", sagt Lucas Paletta. "Nur bei der Prototypentwicklung sind dann Feldtests unverzichtbar."

Die direkten Auskünfte der Probanden werden durch Analysen des Blickverhaltens beim Betrachten unterschiedlicher Videos, Stressmessungen mittels Biosensorik und andere Human-Factors-Messtechnologien ergänzt. "Auf diese Weise können wir herausfinden, was die Menschen wirklich berührt", sagt der Experte für Digital Care und Active-and-Assisted-Living-(AAL-) Technologien.

"Schließlich soll eine an die Bedürfnisse der Nutzer und Nutzerinnen angepasste VR-Technologie entwickelt werden, mit der sich die psychische Situation von Menschen in Pflegeheimen verbessern lässt – indem sie Einsamkeitsgefühle reduziert und durch das Erleben von Selbstwirksamkeit in der virtuellen Welt eine allgemeine Aktivierung fördert."

Reise in vertrauter Gesellschaft

Wie aber kann man sich durch das Eintauchen in virtuelle Welten, auch wenn sie noch so schöne Erinnerungen und positive Gefühle wecken, weniger einsam fühlen? Sitzen die alten Menschen auch mit einer VR-Brille auf der Nase nicht trotzdem allein in ihren Zimmern und sehnen sich nach einem realen Gesprächspartner? "Um das zu vermeiden, arbeiten wir an einem VR-Prototyp, bei dem eine Begleitperson mit externem Control-Panel die virtuelle Umgebung steuert und die Inhalte mit dem Nutzer gemeinsam erleben kann", beschwichtigt Paletta.

Grundsätzlich sollte man die Menschen am besten in vertrauter Gesellschaft auf die virtuelle Reise schicken. Über Skype können die Anwender sogar mit fernen Verwandten einen gemeinsamen Spaziergang erleben und währenddessen miteinander plaudern. Und was unterscheidet die neue Virtual-Reality-Lösung, die in Kooperation mit der Linzer Firma Netural entstehen soll, von den üblichen Haus-, Garten- und Urlaubsvideos?

"Mit dieser Anwendung kann man in virtuelle Erlebnisräume eintauchen, die sich aus statischen Panoramabildern, dynamischen 360-Grad-Videos und moderat interaktiven 3D-Welten zusammensetzen", erläutert der Fachmann für Human-Factors-Technologien.

Raus aus der Apathie

Damit wird das Erleben der virtuellen Ausflüge intensiver und fördert die Aufmerksamkeit und Aktivität der Nutzer stärker, da der Programmablauf durch ihre Eingriffe bis zu einem gewissen Grad gelenkt werden kann. "Letztlich geht es uns darum, mit dieser Technologie das Leben pflegebedürftiger Menschen zu verbessern, ihnen trotz aller Einschränkungen schöne Erlebnisse zu ermöglichen und so einem Absinken in Apathie und Depression vorzubeugen."

Die Kosten dafür seien überschaubar: "Im Grunde braucht man nicht mehr als eine gängige VR-Brille und ein durchschnittliches Smartphone." Und am besten auch noch einen Menschen, der sich gemeinsam mit dem VR-Brillen-Träger auf die sentimentale Reise macht. (Doris Griesser, 21.5.2020)