Dem brasilianischen Präsidenten Jair Bolsonaro wird vorgeworfen, die Corona-Krise in seinem Land herunterzuspielen und nichts dagegen zu unternehmen.

Soziale Distanz ist für die Bewohner von Brasilândia im äußersten Norden von São Paulo purer Luxus. Wie aneinandergeklebt stehen hier einfache Häuser und Hütten dicht an dicht. Brasilândia gehört zu der am dichtesten bevölkerten Region der 13 Millionen Einwohner zählenden Metropole und hält einen traurigen Rekord: Der Stadtteil ist am stärksten vom Virus betroffen, hier sterben die meisten Menschen an den Folgen von Covid-19. Genaue Zahlen gibt es nicht, sagt auch Dimas Reis von der Anwohnerinitiative Preto Império.

Vor einem der wenigen Gesundheitsstützpunkte in Vila Galvão bilden sich täglich lange Schlangen. 200 Patienten mit Corona-Symptomen werden hier pro Tag behandelt und oft mit Grippemedikamenten nach Hause geschickt. Tests gibt es nicht.

Zwei-Klassen-Pandemie

"So werden die Menschen nicht isoliert und stecken die ganze Familie an", weiß auch Reis. Es ist ein Teufelskreis. Auch er hat schon Menschen sterben gesehen. Corona hat sich in Brasilien zu einer Zwei-Klassen-Pandemie entwickelt. Die Armen sind am stärksten betroffen.

Führungslos mit einem irrlichternden Präsidenten taumelt Brasilien durch die schwerste Gesundheitskrise, deren Höhepunkt noch nicht abzusehen ist. Mit rund 255.000 Infektionen und knapp 17.000 Toten liegt Brasilien in der globalen Corona-Statistik inzwischen auf Platz drei. Dabei dürfte die tatsächliche Zahl der Todesopfer mehr als doppelt, die Dunkelziffer der Infizierten sogar bis zu fünfzehnmal so hoch sein. Wegen fehlender Tests tappen alle Experten im Dunkeln.

Während Bilder von Massengräbern um die Welt gehen, verspottet Präsident Jair Messias Bolsonaro weiter Experten, die landesweite Quarantänemaßnahmen anmahnen. "Ich heiße zwar Messias, kann aber keine Wunder vollbringen", sagte er Ende April achselzuckend, als er von Reportern auf die Opferzahl angesprochen wurde.

Der Machtkampf zwischen Gouverneuren, die Ausgangsbeschränkungen verhängt haben, und Bolsonaro wird inzwischen offen ausgefochten. Öffentlichkeitswirksam macht der Präsident sie für die Verschärfung der ökonomischen Krise im Land verantwortlich. "Wir kämpfen inzwischen nicht nur gegen das Coronavirus, sondern auch gegen das Bolsonaro-Virus", sagt São Paulos Gouverneur João Doria (PSDB), der allerdings vor zwei Jahren Bolsonaro noch im Wahlkampf unterstützt hat.

Bolsonaros Kalkül und seine Methodik sind dabei eindeutig und perfide, wie der Politikwissenschafter Luiz Eduardo Soares betont. "Er hat die Verantwortung in dieser extremen Krise an die Gouverneure abgegeben. Wenn das Volk leidet und hungert, hat er keine Verantwortung", sagt Soares. Dabei spiele sich Bolsonaro mit einem "geradezu kriminellen Opportunismus" als Beschützer des Volkes auf.

In die Enge getrieben

Innerhalb von einem Monat hat Bolsonaro zwei Gesundheitsminister verschlissen, und sein Justizminister Sérgio Moro, eine Ikone der Konservativen, ist zurückgetreten. Denn zu Bolsonaros Strategie gehört es auch, kontinuierlich Sachverstand aus der Regierung zu drängen. Inzwischen sind schon zwei Drittel der Regierungsposten mit Militärs besetzt.

Bolsonaro ist in die Enge getrieben und versucht gegenzusteuern, indem er die Regierung weiter radikalisiert. Das Oberste Bundesgericht hat wegen des Verdachts der politischen Einflussnahme auf die Bundespolizei und des Amtsmissbrauchs die Eröffnung eines Verfahrens gegen den Präsidenten genehmigt. Gleichzeitig liegen mehrere Anträge auf Amtsenthebung vor. Im Hintergrund versuchen konservative und liberale Abgeordnete, dazu eine Allianz zu schmieden. Nach langen Debatten hat sich inzwischen auch die linksgerichtete Arbeiterpartei PT mit dem immer noch einflussreichen Ex-Präsident Luiz Inácio Lula da Silva dieser Forderung angeschlossen. (Susann Kreutzmann aus São Paulo, 19.5.2020)