Einsatz eines Covid-19-Testtrupps in einem deutschen Schlachthof in Hamm. Dass es in der fleischverarbeitenden Industrie zu einer besonderen Häufung von Fällen kam, hängt auch mit den besonders günstigen Übertragungsbedingungen für das Virus zusammen.

APA/AFP, INA FASSBENDER

Die jüngste Häufung von Covid-19-Fällen in Österreich gibt es in Wien und Umgebung: Infektionen in zwei Postverteilerzentren in Inzersdorf und Hagenbrunn hängen eng mit jenen in einer Logistikzentrale eines Möbelhauses in Floridsdorf, mit erkrankten Kindern und Betreuern in einem Kindergarten in Liesing und infizierten Personen in Flüchtlingsunterkünften in Wien zusammen.

Dieser Cluster ist der jüngste von bisher insgesamt 268 solcher Häufungsfälle, die von der Agentur für Gesundheit und Ernährungssicherheit (Ages) aufgearbeitet wurden (Stand 19. Mai). Von insgesamt 16.266 nachgewiesenen Covid-19-Erkrankungen lassen sich damit 4.672 einem dieser Cluster zuordnen. Das ist mittlerweile deutlich mehr als ein Viertel aller nachgewiesenen Infektionen.

Die drei Cluster aus dem Bereich Freizeit fallen dabei besonders auf: Sie decken nicht weniger als 1.093 Infektionen ab. Einer dieser Cluster bezieht sich auf die Infektionskette, die vom Wintersportort Ischgl und den dortigen Après-Ski-Aktivitäten ihren Ausgang genommen hat, einem zweiten liegt das Après-Ski in St. Anton am Arlberg zugrunde, wie Daniela Schmid bestätigt, Leiterin der Abteilung Surveillance und Infektionsepidemiologie der Ages.

Superspreader und ihre Settings

Bei solchen Clusteranalysen fällt auf, dass es am Beginn oft einzelne Superspreader gab – oder eher: Superspreader-Ereignisse. So ist davon auszugehen, dass in Ischgl nicht eine einzelne Person die Virenschleuder war, die alle anderen ansteckte, sondern dass es in den Après-Ski-Bars mehrere Infizierte gleichzeitig gab. Das wäre auch deshalb naheliegend, weil im Extremfall neue Virusträger bereits nach ein bis zwei Tagen selbst Viren abgeben können.

Ein internationales, seit kurzem gut untersuchtes Superspreader-Ereignis ist eine Chorprobe im US-Bundesstaat Washington, bei der eine Person 52 weitere Sänger (von insgesamt 60) bei einer Probe ansteckte, zwei Chormitglieder starben. Ein anderes betrifft Unterkünfte von Arbeitsmigranten in Singapur mit fast 800 Fällen. Und zuletzt infizierte in Südkorea ein Mann bei seiner Nachtclub-Tour Anfang Mai etliche andere Menschen. Bis jetzt wissen die Gesundheitsbehörden von 170 Fällen, die mit dem Mann mutmaßlich im Zusammenhang stehen – bei tausenden potenziellen Kontakten.

Wenn einige viele anstecken

Aber wie kommt es, dass einzelne Menschen besonders viele andere anstecken können? Und was bedeutet das für das Covid-19-Pandemiegeschehen sowie für dessen Eindämmung? Diesen Fragen geht ein neuer Bericht nach, den das Wissenschaftsmagazin "Science" in seinem Online-Nachrichtenteil veröffentlichte.

In den bisherigen Modellierungen der Pandemie stand meist der Reproduktionsfaktor (R) als entscheidende Maßzahl im Zentrum. R gibt an, wie viele Personen eine weitere infizierte Person im Schnitt ansteckt. Ohne Maßnahmen der sozialen Distanzierung beträgt dieser Wert bei Sars-CoV-2 in etwa 3. Doch tatsächlich stecken die meisten Infizierten keine einzige andere Person an, wie Jamie Lloyd-Smith (University of California, Los Angeles) gegenüber "Science" erklärt.

Die neue Maßzahl k

Deshalb wird zur epidemiologischen Modellierung zusätzlich zu R eine zweite wichtige Maßzahl herangezogen: der weniger bekannte Dispersionsfaktor (k), der beschreibt, wie stark sich eine Krankheit häuft. Je niedriger der Wert k ist, desto mehr Ansteckungen gehen auf eine kleine Anzahl von infizierten Personen zurück – wie etwa bei Sars im Jahr 2003 mit einem Wert von k = 0,16. Bei der Spanischen Grippe lag dieser Wert etwa bei 1, was bedeutet, dass Superspreader und Cluster keine große Rolle spielten.

Doch wie hoch ist dieser Wert bei Sars-CoV-2? Darüber sind sich die Experten uneins: Gabriel Leung, ein einflussreicher Epidemiologe aus Hongkong, geht davon aus, dass dieser Wert etwas höher ist als bei Sars, Cluster also nicht ganz so wichtig sind. Ein Team um Adam Kucharski von der London School of Hygiene & Tropical Medicine argumentiert hingegen in einem Preprint (also einem Fachartikel, der von Kollegen noch nicht fachbegutachtet wurde), dass k für Covid-19 nur 0,1 betragen könnte. Laut den Berechnungen der Forscher dürften nur zehn Prozent der Infizierten für 80 Prozent der Ausbreitung verantwortlich sein.

Das könnte einige der offenen Fragen der Pandemie beantworten und bei der weiteren Vorgangsweise gegen das Virus helfen. So rätseln etwa Forscher, warum Sars-CoV-2 nicht schon früher weltweit zirkulierte, obwohl es augenscheinlich bereits Ende Dezember 2019 Fälle außerhalb von China gab, die aber keine größeren Ausbrüche ausgelöst haben. Wenn k wirklich 0,1 beträgt, dann muss laut den statistischen Berechnungen von Kucharski und seiner Gruppe Sars-CoV-2 mindestens viermal unentdeckt in ein neues Land eingeschleppt werden, um sich tatsächlich auszubreiten.

Hohe Virenschleudergefahr

Clusteranalysen und neue Erkenntnisse über Superspreader-Ereignisse liefern aber auch wertvolle Anhaltspunkte dafür, welche Situationen und Settings besonders riskant und daher zu vermeiden sind. So dürften Vielfachinfektionen vor allem in Innenräumen passieren. Chinesische Forscher, die Clusteranalysen in der Provinz Hubei durchführten, identifizierten in einem Preprint 318 Cluster mit drei oder mehr Fällen. Nur ein einziger Häufungsfall ging auf Sozialkontakte im Freien zurück. Eine Studie in Japan wiederum ergab, dass das Infektionsrisiko in Innenräumen fast 19-mal höher ist als im Freien.

Dass in Deutschland Fleischverarbeitungsbetriebe massiv betroffen sind, hat sicher auch mit der sozialen Situation der Leiharbeiter zu tun. Aber wichtig für die Ansteckungen selbst war, dass hier Menschen in gekühlten Räumen, die für die Verbreitung des Virus besonders günstig sind, eng zusammenarbeiten und sich dabei lautstark unterhalten.

Innenräume, in denen Menschen laut reden oder singen, scheinen überhaupt sehr günstig für die Virenübertragung zu sein, siehe die Berichte über Vielfachansteckungen bei Chorproben, egal ob in den USA oder in Österreich. Ein besonderer österreichischer Häufungsfall war auch eine Spinning-Trainingsgruppe (also Indoor-Radfahren auf stationären Rädern) mit einer infizierten Trainerin: Die gab ihre Anweisungen lautstark durch, die Teilnehmer sportelten bzw. atmeten intensiv – und das in relativer Nähe zueinander. Auch ein solches Setting scheint für die Virusausbreitung ideal.

Gefahr der Stigmatisierung

Ein möglicher Kollateralschaden bei Superspreader-Ereignissen und deren Analyse darf dabei freilich nicht vergessen werden: die potenzielle Stigmatisierung der Betroffenen. Hier gilt es, besondere Vorsicht walten zu lassen. In den USA hat man im Bericht über die ansteckende Chorprobe ganz bewusst darauf verzichtet, einen Sitzplan der Chormitglieder zu veröffentlichen, der Rückschlüsse auf die Person zugelassen hätte, die das Virus einschleuste und verbreitete.

In Südkorea führte der jüngste Fall prompt zu homophoben Reaktionen, weil Besucher von Schwulenbars betroffen waren, was letztlich auch die Kontaktverfolgung erschwerte. Und womöglich wäre es auch beim Umgang mit dem jüngsten österreichischen Cluster und für die betroffenen Gruppen hilfreich, würden manche Politiker mit den Worten ein wenig abrüsten. (Klaus Taschwer, 21.5.2020)