Im Gastkommentar widmet sich der Londoner Psychiater Raj Persaud dem Phänomen der "Glasklippe".

Während viele Länder weiterhin mit eskalierenden Covid-19-Ausbrüchen ringen, haben zwei die ihrigen für faktisch beendet erklärt: Neuseeland und Island. Es ist kein Zufall, dass die Regierungschefs in beiden Ländern Frauen sind.

Jacinda Ardern.
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Die neuseeländische Premierministerin Jacinda Ardern und ihre isländische Amtskollegin Katrín Jakobsdóttir haben beide großes – und völlig verdientes – Lob für ihre Führungsarbeit während der Covid-19-Krise erhalten. Und sie sind nicht allein: Von den zehn (was Tests und Sterberate angeht) erfolgreichsten Ländern haben vier – Estland, Island, Neuseeland und Taiwan – Regierungschefinnen. Bundeskanzlerin Angela Merkel und die dänische Ministerpräsidentin Mette Frederiksen wurden für ihre Führung in der Pandemie ebenfalls gelobt.

Altmodische "Alphamännchen"

Weniger als sieben Prozent der weltweiten Staats- und Regierungschefs sind Frauen; daher ist die Tatsache, dass so viele von ihnen sich während der Covid-19-Krise ausgezeichnet haben, bemerkenswert. Doch das ist noch nicht alles. Einige der leistungsschwächsten Länder werden von kompromisslos altmodischen "Alphamännchen" geführt. Der brasilianische Präsident Jair Bolsonaro ist die völlige Personifizierung rückschrittlicher Männlichkeit und eines patriarchischen Frauenbilds. Entsprechend hat er das Virus als "poplige Erkältung" bezeichnet und geprahlt, er "würde nichts spüren", wenn er sich infiziert hätte.

Im Vereinigten Königreich – das innerhalb Europas die meisten Covid-19-Todesfälle verzeichnet – weist Premierminister Boris Johnson ebenfalls eine Geschichte sexistischer Kommentare auf. Wie Bolsonaro hat Johnson die Bedrohung zunächst instinktiv heruntergespielt, obwohl er seine Haltung änderte, nachdem er sich angesteckt hatte und auf der Intensivstation gelandet war.

Mit US-Präsident Donald Trump ist es dasselbe. Trump ist ein Regierungschef, der bei seinem Aufstieg ins Amt mit der Fähigkeit mächtiger Männer prahlte, gegenüber Frauen sexuell übergriffig zu werden – was er und seine Anhänger als "Umkleidekabinengeschwätz" abtaten –, und trägt seine Frauenfeindlichkeit häufig wie ein Ehrenzeichen spazieren. Auch er hat die Covid-19-Krise konsequent heruntergespielt und konzentriert sich stattdessen darauf, "China die Rechnung zu präsentieren", weil es die Verbreitung des Virus über seine Grenzen hinweg zugelassen habe.

Konsequentes Handeln

Genau wie das sich Stützen auf männliche Stereotype mit dürftigen Reaktionen auf die Pandemie korreliert zu sein scheint, scheinen viele Beobachter zu glauben, der Erfolg der Regierungschefinnen könne in ihren traditionellen "weiblichen" Qualitäten wie Empathie, Mitleid und der Bereitschaft zur Zusammenarbeit wurzeln. "Forbes" hat die an die Kinder ihres Landes gerichtete Fernsehbotschaft der norwegischen Ministerpräsidentin Erna Solberg als Beispiel der "einfachen, menschlichen Innovationen" bezeichnet, die unter weiblicher Führung möglich seien.

Diese Interpretation ist angestaubt, verengt und schlicht falsch. Trump und Konsorten mögen den starken Mann mimen, doch ist ihre Führung letztlich ein inkompetenter Affenzirkus aus Buhei, Unentschlossenheit und Selbstbeweihräucherung. Die leistungsstarken Regierungschefinnen dagegen agierten resolut; sie bewerteten die Sachlage, hörten auf die Ratschläge der Expertinnen und Experten und handelten entschlossen.

Getreu dem Mantra "Handle konsequent und frühzeitig" verhängte Ardern vier Tage vor dem ersten Covid-19-bedingten Todesfall in Neuseeland eine strenge Kontaktsperre. Die taiwanesische Präsidentin Tsai Ing-wen setzte noch im Jänner – als die Weltgesundheitsorganisation die Möglichkeit einer Übertragung von Mensch zu Mensch noch immer in Zweifel stellte – mehr als einhundert gesundheitspolitische Maßnahmen um.

Phänomen der gläsernen Klippe

Wenn traditionell "weibliche" Charakterzüge die Leistungsstärke der Regierungschefinnen in Krisenzeiten nicht erklären, was dann? Die Antwort könnte mit dem Weg der Frauen an die Macht zusammenhängen, der sich im Allgemeinen schwieriger gestaltet als der von Männern. Insbesondere könnte sie mit dem Phänomen der "Glasklippe" verbunden sein: dass Frauen mit größerer Wahrscheinlichkeit in Führungspositionen berufen werden, die "riskant und gefährlich" sind.

Die wissenschaftliche Untersuchung der "Glasklippe" begann mit der Erkenntnis, dass Unternehmen im FTSE-100-Index vor der Berufung von Männern in den Vorstand normalerweise stabile Aktienkurse verzeichneten. Vor der Ernennung einer Frau jedoch erlebten dieselben Unternehmen häufig fünf Monate lang eine schwache Kursentwicklung. Eine andere Untersuchung ergab, dass an britischen Börsen gelistete Unternehmen die Vielfalt in ihren Vorständen tendenziell dann erhöhten, wenn sie zuvor schwere Verluste erlitten hatten.

Eine ähnliche Tendenz ist in der Politik erkennbar. Margaret Thatcher wurde Parteichefin, als ihre Konservative Partei in der Krise steckte, und Premierministerin nach einem "Winter der Unzufriedenheit". Eine Archivanalyse der britischen Parlamentswahlen des Jahres 2005 ergab, dass Kandidatinnen der Konservativen Partei tendenziell in Wahlkreisen kandidierten, die (gemessen am Abschneiden ihrer Gegenkandidaten bei der vorherigen Wahl) deutlich schwieriger zu gewinnen waren.

Auch Ardern erhielt ihre Chance, indem sie auf eine "Glasklippe" geworfen wurde: Sie wurde 2017 Parteichefin der neuseeländischen Labour Party, nachdem schlechte Umfragewerte ihren Amtsvorgänger zum Rücktritt gezwungen hatten. Bloße zwei Monate später wurde sie jüngste Premierministerin des Landes seit 150 Jahren.

Schon Hürden überwunden

Laut den Wissenschafterinnen und Wissenschaftern kann die "Glasklippe" auftreten, weil Organisationen eher bereit sind, den Status quo in Frage zu stellen, wenn der Status quo nicht funktioniert. Der sichtbare Unterschied einer Frau am Ruder könnte die verschiedenen Interessenträger zudem beruhigen, dass sich tatsächlich etwas ändert. Was die Frauen angeht, so sind sie womöglich eher bereit, in Krisenzeiten Führungspositionen zu akzeptieren, weil sie weniger Chancen haben, ganz nach oben zu kommen. Sie können nicht einfach abwarten, dass sich ein einfacherer Posten auftut.

Unabhängig davon, warum dies passiert: Tatsache ist, dass eine Frau zu dem Zeitpunkt, an dem sie die Höhen wirtschaftlicher oder politischer Macht erreicht, vermutlich schon massive Hürden überwunden hat. Bei Männern ist das möglich, aber alles andere als sicher. Für Johnson (dem wegen seiner Lügen wiederholt gekündigt wurde) und Trump (mit seiner minutiös dokumentierten Bilanz geschäftlicher Misserfolge, darunter mehrere Konkurse) schienen sich immer wieder neue zweite Chancen aufzutun. Diese Regierungschefs sind durch Wege zur Macht geprägt, die eher durch weiche Auffangkissen gekennzeichnet waren als durch Glasklippen – und das sieht man.

Während viele Faktoren die Ergebnisse während der Covid-19-Pandemie mitbestimmen, ist Führungsstärke unzweifelhaft einer der wichtigsten. Es sollte niemanden überraschen, dass – im Großen und Ganzen – diejenigen Regierungschefs am effektivsten agieren, die sich bereits früher beweisen mussten. Und das bedeutet sehr oft, dass es sich dabei um Frauen handelt. (Raj Persaud, Übersetzung: Jan Doolan; Copyright: Project Syndicate, 21.5.2020)