Es ist die Pandemie der etwas anderen Art: Menschen rund um den Planeten werden immer dicker. In den USA sind mittlerweile 33,7 Prozent der Bevölkerung inklusive ihres Präsidenten fettleibig und haben einen Body-Mass-Index (BMI) von über 30. In Österreich beträgt dieser Anteil rund 14 Prozent. 32 Prozent der Österreicher – rund 3,4 Millionen – sind übergewichtig; ihr BMI beträgt zwischen 25 und 29,9.

Aus medizinischer und wirtschaftlicher Sicht ist krankhaftes Übergewicht (Adipositas oder Fettleibigkeit) ein buchstäblich schwerwiegendes Problem für unsere Gesellschaft. Denn ein stark erhöhter Body-Mass-Index erhöht auch das Risiko für sämtliche Erkrankungen des Stoffwechsels (vor allem Diabetes mellitus Typ 2), für Herz-Kreislauf-Erkrankungen, aber auch Krebs. Entsprechend groß sind die Anstrengungen der Medizin, diese Epidemie in den Griff zu bekommen.

Genetischer Anteil an Adipositas

Einerseits liegt es natürlich vor allem an unseren Ernährungsgewohnheiten und an unserer Bewegung, ob wir mehr oder weniger Kilos auf die Waage bringen. Doch es gibt bei der Gewichtszunahme auch einen genetischen Anteil, der nicht zu unterschätzen ist: Manche Menschen neigen mehr als andere dazu, an Kilos zuzulegen – ganz unabhängig vom Essen oder ihren sportlichen Aktivitäten.

Es hängt auch stark von unseren Genen ab, ob wir eher dick oder eher dünn sind.
Illustration: Imba

Bisherige Studien konzentrierten sich in erster Linie auf Gene, die mit Adipositas in Verbindung stehen. Ein internationales Wissenschafterteam um Josef Penninger – bis 2018 wissenschaftlicher Direktor am Institut für Molekulare Biotechnologie (Imba) in Wien, nun Leiter des Life Sciences Institute an der University of British Columbia in Vancouver – ging in den letzten Jahren den umgekehrten Weg: Die Genetiker untersuchten zunächst einmal die Genomdaten von 47.102 normalgewichtigen und extrem dünnen, aber gesunden Bewohnern Estlands.

Mutiertes ALK-Gen bei schlanken Esten

Wie das Team, dem Forscher von rund 20 internationalen Forschungsinstituten angehörten, am Donnerstag im renommierten Fachblatt "Cell" berichtet, fand es bei den schlanken Esten mehrere mit Schlankheit assoziierte Gene, darunter auch das sogenannte ALK-Gen, das mit Alkohol nichts zu tun hat, sondern deshalb so heißt, weil es das Protein Anaplastische Lymphomkinase kodiert. Dieses Gen ist bereits aus der Krebsmedizin bekannt. Es spielt nämlich bei der Entstehung von Lungenkrebs eine wichtige Rolle, bei dem es im Fall einer Mutation zu einer Überproduktion von ALK-Proteinen führt.

Für dieses ALK-Gen konnten die Wissenschafter um Penninger nun aber auch einen Zusammenhang mit weiteren stoffwechselbezogenen Eigenschaften wie Taillenumfang, Cholesterinspiegel und Blutzuckerhaushalt feststellen. Damit war die Forschung für die Studie aber längst noch nicht getan, sondern begann erst richtig: In Experimenten mit Fruchtfliegen sorgte die Entfernung des ALK-Gens für niedrigere Blutfettwerte; in Experimenten mit Mäusen kam es zu einem schlanken Erscheinungsbild. Außerdem nahmen die genveränderten Tiere trotz fettreicher Nahrung nicht an Gewicht zu.

Hypothalamus als Schaltstelle

Weitere Versuche der Forscher (Erstautor ist Michael Orthofer vom Imba) legen nahe, dass der Ort des Geschehens dieser Schlankheitseffekte in Nervenzellen des Hypothalamus zu finden ist, einem Teil des Gehirns, der in die Hormonregulation eingebunden ist. Dort entfaltet das ALK-Protein offenbar seine schlankmachende Wirkung. Diese Nervenzellen regulieren den Energieaufwand der Fettorgane über den sogenannten Sympathikus, einen Teil des Nervensystems, der vor allem für die Aktivierung von nicht aktiv beeinflussbaren Körperfunktionen zuständig ist.

Mäuse, bei denen die Synthese des ALK-Proteins speziell in diesem Bereich des Gehirns unterdrückt wurde, hatten eine höhere Fettverbrennungsrate, offenbar angeregt durch erhöhte Konzentrationen des Stresshormons Noradrenalin im Fettgewebe. Diese Befunde decken sich mit denen aus Gewebeproben von dünnen Menschen, die von den Forschern zusätzlich analysiert wurden.

Resümee und Einschätzungen

"Mit unserer Arbeit konnten wir nachweisen, dass ALK eine vollkommen neue und wesentliche Schnittstelle im Gehirn ist, die Nahrungsverwertung und Energiekreislauf steuert", resümiert Josef Penninger, der auch in der Covid-19-Pandemie an vorderster Front aktiv ist und dessen Wirkstoff APN01 gerade an Patienten getestet wird. "Ein nächster wichtiger Schritt wäre es jetzt zu erforschen, wie die Neuronen im Hypothalamus, in denen ALK aktiv ist, diese Stoffwechselkontrolle beeinflussen."

Einige Forscher, die nicht an der Studie beteiligt waren, äußerten sich beeindruckt von der Studie und den Ergebnissen – wie etwa Susanne Klaus vom Deutschen Institut für Ernährungsforschung: "Ich finde die Menge der Daten insgesamt sehr eindrucksvoll und als solche auch überzeugend." Ähnlich äußert sich der Stoffwechselexperte Bernhard Paulweber vom Uniklinikum Salzburg: Die neuen Erkenntnisse könnten "ein neues Kapitel in der Suche nach effizienten Strategien zur Bekämpfung von Übergewicht aufschlagen".

Künftige Therapiemöglichkeit

Die große Frage ist natürlich, wie und wann sich die neuen Forschungsergebnisse auch zur Therapie von Adipositas einsetzen ließen. Offensichtlich ist, dass eine Hemmung des Gens ALK eine neue Therapiemöglichkeit sein könnte, um Übergewicht beim Menschen vorzubeugen. Bevor es dazu kommt, sind freilich noch umfangreiche Untersuchungen zu möglichen Wirkungen und Nebenwirkungen nötig.

Eine Nebenwirkung ist übrigens bereits zumindest bei Mäusen bekannt: Nager ohne ALK-Gen neigen – und das ist jetzt kein Schlussgag – zu übermäßigem Alkoholkonsum. (Klaus Taschwer, 21.5.2020)