Istanbul vor und während Corona: Während der Ausgangssperre wegen Covid-19 war die türkische Millionenmetropole am Bosporus menschenleer.

Foto: AFP / Ozan Kose

Ein Leben zwischen zwei Kulturen: Burhan Sönmez pendelt zwischen Cambridge und Istanbul, außer in Corona-Zeiten. Der international erfolgreiche Schriftsteller wuchs in Zentralanatolien sowohl mit der kurdischen als auch der türkischen Sprache auf. Er studierte Jus in Istanbul, unterrichtet an der Middle East Technical University in Ankara und ist aktives Mitglied des türkischen und englischen P. E. N. Die vier vielfach ausgezeichneten Romane des 55-Jährigen erscheinen in mehr als zwanzig Ländern. Vor kurzem wurde sein neuer Roman Labyrinth veröffentlicht, die Geschichte eines jungen Musikers mit Gedächtnisverlust.

STANDARD: In Ihrem neuen Roman erzählen Sie von Labyrinthen – von echten und von jenen im Kopf. Seit wann beschäftigen Sie sich mit Irrgärten?

Burhan Sönmez: Ich wuchs in einem Dorf in Zentralanatolien auf, das in einer riesigen Steppe lag. Dieses flache Land war durchzogen von ausgetrockneten Flussbetten, den sogenannten Wadis. Sie wurden tief in die Erde gegraben. Als Kind habe ich dort stundenlang gespielt. Wenn ich in einem Wadi stand, konnte ich nichts außer dem Himmel über mir sehen, und es gab zunächst nur zwei Richtungen, in die ich gehen konnte: vorwärts oder rückwärts. Wenn ich weiterging, mündeten andere Flussbetten in mein Wadi. Ich musste mich also entscheiden, ob ich nach rechts oder links abbog oder auf meinem Weg blieb. Das fühlte sich an wie in einem Labyrinth.

STANDARD: Haben Sie später andere, echte Labyrinthe entdeckt?

Sönmez: Als ich zum ersten Mal nach Istanbul kam, hatte ich ein ähnliches Gefühl wie in den Wadis. Diese Stadt mit 16 Millionen Einwohnern und Tausenden von Gassen wirkte auf mich wie ein undurchdringliches Labyrinth. Auch meiner Hauptfigur Boratin geht das so. Nach einem Selbstmordversuch hat er sein Gedächtnis verloren. Er zieht durch seine Heimatstadt, um seinen Erinnerungen auf die Sprünge zu helfen und um aus dem Labyrinth seiner Psyche zu entkommen. Doch das Gewirr der Gassen stürzt ihn in ein weiteres Labyrinth. Daraufhin beschließt Boratin, nicht weiter nach seinen Erinnerungen zu suchen.

STANDARD: Würden Sie sich in dieser Situation ähnlich verhalten?

Sönmez: Nein. Ich bin nicht wie er; ich bin ein Mensch, der von Erinnerungen lebt. Für mich sind sie von entscheidender Bedeutung – sie sind die Quelle des Lebens. Meine Vergangenheit begleitet mich überallhin. Wie wohl jeder andere Mensch bereue ich auch bestimmte Dinge, oder hätte sie gern anders geregelt. Aber normalerweise erinnere ich mich an die guten Momente.

STANDARD: Können Sie Beispiele nennen?

Sönmez: Ich denke oft an meine Teenagerzeit, die ich in dem Dorf verbracht habe. Oder an die ersten Jahre, die ich an der Universität in Istanbul verbrachte. Damals kam ich in Kontakt mit Literatur und Politik, was mich sehr geprägt hat. Sie sehen also, ich bin ein Mensch der Vergangenheit. Andererseits frage ich mich: Was, wenn Boratin recht hat und ich falschliege? Wenn es wichtiger ist, in der Gegenwart zu leben? Ich habe diesen Roman geschrieben, um jemanden zu verstehen, der anders ist als ich.

STANDARD: Gab es auch in Ihrem Leben einen Moment, der Ihren Blick auf Sie selbst und die Welt komplett verändert hat?

Sönmez: 1996 passierte tatsächlich etwas, das mein ganzes Leben veränderte. Ich wurde von der türkischen Polizei niedergeschlagen – diese Männer wollten mich töten. Schwerverletzt musste ich mich operieren und jahrelang behandeln lassen. In diesen Jahren dachte ich manchmal, dass Selbstmord keine schlechte Wahl wäre. Doch zum Glück habe ich überlebt, und diese schreckliche Zeit führte dazu, dass ich begann zu schreiben. Erst waren es nur Notizen und Ideen in meinem Krankenlager, doch später wollte ich einen Roman daraus machen. Und seitdem bin ich süchtig danach, mich mit Geschichten zu beschäftigen, die ich selbst erfunden habe.

STANDARD: Sie leben seit vielen Jahren in Cambridge und Istanbul. Wie fühlt sich das Pendeln zwischen zwei Kulturen an?

Sönmez: Ich sehe es als großen Vorteil an, denn es sind tatsächlich zwei Welten, in denen ich lebe. Das regt den Verstand und die Wahrnehmung an, und es bereichert den Geschmack, den man vom Leben bekommt.

STANDARD: Von den in Großbritannien und der Türkei regierenden Politikern dürften Sie allerdings kaum erfreut sein.

Sönmez: Das kann man wohl sagen. Aber ich bin mit dieser Situation vertraut: Was Politiker betrifft, hatte ich nie Glück. Immer gerate ich in eine Lage, in der ich gegen grausame, dumme Politiker kämpfen muss. Das ist mein Schicksal. Auf der anderen Seite sehe ich das als Test: Wird es mir gelingen, beharrlich weiterzukämpfen? Bis jetzt schaffe ich das ganz gut.

STANDARD: In Ihren Büchern erzählen sich die Figuren oft gegenseitig Geschichten, oder sie suchen die Geschichte ihres Lebens, wie in "Labyrinth". Welche Bedeutung hat das Geschichtenerzählen für Sie?

Sönmez: Meine Mutter ist eine großartige Geschichtenerzählerin, und die Freude daran empfand sie immer als den Ursprung des Lebens. Als ich klein war, gab es bei uns im Dorf keine Elektrizität. Also saßen wir rund um das gedämpfte Licht einer Gaslampe und lauschten meiner Mutter, die uns wunderbare Geschichten von Feen und Dschinn erzählte. Das ist meine kostbarste Erinnerung.

STANDARD: Was ist das Besondere an den Erzählungen Ihrer Mutter?

Sönmez: Beim Geschichtenerzählen ist nicht das Entscheidende, wie man sie vorträgt oder worum es geht. Der Punkt ist vielmehr der Wunsch und das Verlangen, sie erzählen zu wollen. Meine Mutter war darin eine Meisterin. Sie fragte uns stets: "Na, wollt ihr eine Geschichte hören?" Und wie wir das wollten! Ihre Geschichten waren wie ein verborgener Schatz, der durchs Erzählen gehoben wurde.

STANDARD: In Zeiten von Ausgangsbeschränkungen und Social Distancing ist das gegenseitige Geschichtenerzählen nur noch über Internet oder Telefon möglich. Wie werden wir diese Phase ohne Sozialkontakte überstehen?

Sönmez: Es ist möglich. Menschen sitzen jahrelang in dunklen Gefängniszellen und überleben. Jetzt sind wir alle in unseren eigenen Zellen, wie in einem Science-Fiction-Film. Nur dass es diesmal real ist. Aber auch wir werden überleben und uns dann über die Dinge austauschen, die uns geholfen und bewegt haben. Erinnern Sie sich an Robinson Crusoe? Er strandete auf einer einsamen Insel und erschuf sich eine komplett neue Welt. Und wir? Den einzigen Rat, den ich geben würde, ist: Wir sollten versuchen, uns die Lebensfreude zu bewahren und denen helfen, die uns brauchen.

STANDARD: Wie hat sich Ihr Leben durch Corona verändert?

Sönmez: Ich reise nicht mehr, aber davon abgesehen ist mein Leben nahezu gleich geblieben. Ich lese und schreibe fast den ganzen Tag, so wie immer. Schlimm an der Situation ist allerdings, dass ich meine Mutter und meine Geschwister nicht besuchen kann. Andererseits freue ich mich, dass ich mehr Zeit mit meiner Frau und meinen Kindern verbringe. (Günter Keil, 24.5.2020)