Liebe in den USA 2019 vor Corona: "Ich vertraue ihm voll und ganz", sagt Jessica, "nur anderen Frauen vertraue ich nicht."

Foto: Roos van Ees

Der rührende Spielfilm Ladybird (2017) von Greta Gerwig handelt von einer ersten Liebe, der Pubertät und dem Abschied von Sacramento, der Kleinstadt, in der die Hauptperson ihre Jugend verbracht hat. Der Film beginnt mit einem Zitat von Joan Didion: "Jeder, der vom kalifornischen Hedonismus spricht, hat noch nie Weihnachten in Sacramento gefeiert."

Fünf Wochen lang reisten meine Freundin Roos und ich durch den Westen Amerikas, um der Frage auf den Grund zu gehen, wie Liebe und Sex in Zeiten der Ära Trump aussehen. Roos, die diese Reise geplant und auch die Fotos gemacht hat, ist jetzt nicht mehr meine Freundin. Kurz vor Beginn dieser Reise habe ich mich in eine andere Frau verliebt.

Dieses Gefühl der Verliebtheit war stärker als alles andere; so wie das nun einmal ist, wenn man sich verliebt. Und so wurde aus dieser Reise ein langsamer Abschied von Roos und unserer vierjährigen Beziehung. Oder ein schneller Abschied, ganz wie man’s nimmt. Roos wurde stets mehr zu meiner Ex-Freundin.

Auf dem Weg nach Sacramento, wo wir mit "High School Sweethearts" reden werden, schwimmen Roos und ich in einem kleinen See. Als wir uns abtrocknen, fragt Roos: "Meinst du, dass sie auch diese Stelle auf deinem Rücken einreiben wird?" "Wir werden es sehen", sage ich. "Vielleicht."

Korrumpierte Beziehung

Die Casa Noble High School liegt in einem Außenbezirk von Sacramento. Nein, mit Hedonismus haben dieser Bezirk und diese Schule wirklich nichts zu tun.

Kyrtus (18) erzählt, dass sein Vater aus den Philippinen kommt, er möchte ins Militär, und er absolviert hier gerade ein vorbereitendes militärisches Training. Er spricht sehr höflich für jemanden seines Alters, vielleicht sogar zu höflich. Seine Freundin Jessica (17) trägt eine Brille und ein gestreiftes Kleid.

"Wir haben uns das erste Mal im Drive-thru eines Taco Bell gesehen", sagt Kyrtus, "dabei haben wir unsere Snapchat-Adressen ausgetauscht." "Und wann hat eure Beziehung genau angefangen?", möchte ich wissen."Es gab da einen gewissen Moment", sagt Jessica, "in dem wir zueinander gesagt haben, dass es jetzt so weit ist." Jessica wirkt sehr seriös und sehr empfindlich. "Wir gehen in kleinen Schritten gemeinsam in Richtung Zukunft", sagt Kyrtus. "Hiervor war ich in einer korrumpierten Beziehung." "Was heißt korrumpiert?", frage ich. "Sie wollte nicht das Beste für mich", sagt Kyrtus. "Aber Jessica ist anders, deshalb finde ich auch alles schön an ihr. Selbst wenn sie in Trainingshosen rumläuft, finde ich sie schön."

Das zweite Pärchen setzt sich zu uns. Mason und Lainie (beide 17): Sie trägt eine kurze Jeans und er eine kurze Hose mit weit nach oben gezogenen Socken. "Was ist Liebe?", fragt Roos. "Dass du nervös bist, wenn du denjenigen siehst, den du liebst", sagt Lainie, "dass du den ganzen Tag bei ihm sein möchtest, und wenn das nicht geht, dass du ihm dauernd simst."

"Und was macht ihr wirklich gerne zusammen?", möchte Roos noch wissen. Ohne zu zögern, sagt Lainie: "Auf einem Spielplatz hintereinander herrennen." Sie sagt es ohne Ironie, und dann wird mir klar, dass jeder, egal welchen Alters, jemanden braucht, dem er auf einem Spielplatz hinterherrennen kann.

"Seid ihr eifersüchtig?", fragt Roos noch. "Ich vertraue ihm voll und ganz", sagt Jessica, "nur anderen Frauen vertraue ich nicht."

"Love of my life"

Wir gehen nach draußen, um Fotos zu machen. Auf Instagram, sehe ich, hat Lainie unter ein Bild von Mason geschrieben: "This boy ist the love of my life and always will be." "Wir tun unser Bestes, um die Funken unserer ersten Verliebtheit wiederaufleben zu lassen, und ab und an gelingt uns das", sage ich zu Roos, als wir wieder im Wagen sitzen. "Übrigens glaube ich, dass man Sacramento vielleicht nie wirklich verlassen kann, diese Kleinstadt reist uns immer hinterher."

Wir sind unterwegs nach Portland, Oregon, wo wir Gabriela treffen werden. Sie lebt eine halbe Stunde entfernt von Portland in einem schönen Haus mit einem riesigen Garten. Sie ist Ende fünfzig und trägt einen blauen Pulli, sie sieht jünger aus, als sie in Wirklichkeit ist. "Meine Mutter war ein Hippie", sagt sie, während sie uns Kaffee kocht.

"Timothy Leary (ein amerikanischer Psychologe, der kontrollierten Drogenkonsum propagierte) hat meine Mutter mit LSD in Kontakt gebracht. Wir reisten den Beatles hinterher und gingen nach Europa. Ich ging nicht zur Schule, meine Mutter fand Schule Unsinn. Meine Mutter und mein Stiefvater saßen in Italien wegen Drogenmissbrauchs fast zwei Jahre im Gefängnis. Ich war damals zehn." Sie zeigt uns Ausschnitte aus italienischen Zeitungen von damals, Nonnen hatten sich um Gabriela gekümmert, als ihre Mutter im Gefängnis saß.

Auf einem der Bilder sehen wir die zehnjährige Gabriela, die einen nicht gerade unglücklichen Eindruck macht, sondern vielleicht etwas erstaunt, aber dennoch selbstsicher dreinschaut.

Das beste Produkt

"Ich war schon immer polyamourös", sagt Gabriela. "Ich heiratete, als ich siebzehn war, meine Hochzeitsnacht feierten wir als Trio, ich, mein Mann und eine meiner älteren Schwestern. Aber bei meinem zweiten Mann war ich sechs Jahre lang monogam."

"Lange", sage ich. "Sehr lange", antwortet Gabriela, "aber wir hatten Kinder, und die Kinder waren eigentlich auch Liebhaber." Vielleicht möchte sie damit sagen, dass man mit kleinen Kindern selbst keine Zeit mehr für den Geliebten hat.

Dann kommt John ins Zimmer, er ist Gabrielas wichtigster Partner, er ist 46 Jahre alt und hat Theologie studiert. Er fiel nach einem Kirchentreffen unter dem Motto "Pray the Gay Away" vom Glauben ab, denn er hatte nicht das Gefühl, dass Homosexualität durch Beten verschwinden würde.

Gabriela und John erzählen von vielen Leuten, mit denen sie eine Beziehung haben oder hatten, und dann sagt Gabriela: "Sicher, Eifersucht gibt es auch bei uns, aber wir hüten uns davor, uns ineinander zu verlieben, und schlussendlich bekommt John das beste Produkt von mir, das er sich nur wünschen kann. Polyamorie ist auch eine Form des Kapitalismus."

Sie zeigt uns den schönen Garten. "Ich habe Angst, älter zu werden", sagt sie. Die Gesetze des Kapitalismus sind schön, aber hart. Das beste Produkt, das heute auf dem Markt ist, landet morgen auf dem Müll. Roos und ich fahren zum Columbia Plateau im nördlichen Oregon: Steppe, ausgetrocknete Erde.

Ein frivoler Tod

Wir haben eine Verabredung mit einem Jäger. Ich habe Roos immer "Hase" genannt. Sie sagte zu mir: "Du hast mich getötet, jetzt möchte ich einen Hasen töten, um dann ein Selbstporträt von mir und dem toten Hasen zu machen."

Der Jäger heißt Justin. Er sagt: "Ich möchte keine Woche zusammen mit Trump verbringen, aber ich werde ihn wieder wählen." Wir gehen in die Steppe, das Jagen liegt mir nicht sonderlich, ich bin nicht sehr präzise. Nach dem Mittagessen schießt Roos einen Hasen. Und dann noch einen.

Die Hasen werden nicht aufgegessen, sie bleiben für die Kojoten liegen. Roos nimmt einen eisgekühlten Hasen mit ins Hotel; sie wird ihn in den darauffolgenden Tagen fotografieren. Sie hält den Hasen hoch. "Ein frivoler Tod", sage ich und überlege mir, ob das in diesem unwirtlichen Teil der USA Liebe ist: ein frivoler Tod.

"Mich nach ein paar Wochen der Verliebtheit zu verlassen war ein frivoler Tod." Sie drückt den Hasen an die Brust: "So hätte ich unser Kind festhalten können." (Arnon Grünberg, 24.5.2020)