Am Anfang war der Verzicht nicht mehr als ein Experiment. Ein Jahr ohne BH, wie fühlt sich das wohl an? Jana Kaspar stellte sich diese Frage mit Anfang zwanzig. Damals begann die Youtuberin, ihr Leben zu verändern, zu "minimalisieren", wie sie das nennt. Sie habe hinterfragt, was wirklich notwendig sei, sagt Kaspar, ganz generell. Den BH habe sie immer als einengend empfunden. Im März 2018 lädt sie ein Video auf ihrem Youtube-Kanal "Janaklar" hoch: In 12 Minuten erzählt die Influencerin ihren Followern von ihrem Jahr ohne BH –und trifft damit einen Nerv. Bislang wurde es mehr als 424.000-mal angesehen, mehr als 1800 Kommentare finden sich darunter. Nach wie vor verzichtet die 24-Jährige weitgehend auf Bügel, Körbchen, Pölster. Sie sagt: "Ohne ihn fühle ich mich wesentlich wohler."

Warum Kaspar öffentlich darüber redet? Die in Steyr lebende Influencerin ist nicht nur genervt vom Zwicken und Zwacken des BHs, sie will zeigen, dass es unterschiedliche Körperformen gibt. Mit ihrer Haltung verbindet sie eine Botschaft: "Ein Großteil der Frauen trägt Cup-BHs, die die Brüste rund erscheinen lassen. So wird vermittelt, dass jede Brust gleich aussehen muss, das finde ich schade." Dennoch sei die Vorstellung, als Frau einen gepolsterten BH tragen zu müssen, noch immer weit verbreitet, vor allem unter jungen Mädchen. Das bemerkt Kaspar immer dann, wenn Followerinnen ihre Beiträge mit "Zieh dir mal einen BH an, das ist doch ekelhaft" kommentieren.

Frauen galt er oft als lästig: Ende der Sechziger wurde der BH als Symbol weiblicher Unfreiheit sogar verbrannt. Zuletzt streifte ihn die "Free the Nipple"-Bewegung ab.
Foto: thezoo

Dass junge Frauen der Generation Y hin- und hergerissen sind zwischen aufgepolstertem Superbusen und BH-Verzicht, verwundert nicht: Aufgewachsen sind sie mit der aufgekratzten Sexyness des US-Unternehmens Victoria’s Secret, für dessen Laufsteg-Show Models wie Adriana Lima oder Alessandra Ambrosio ihre Brüste in pinken Push-ups hochzwängten. Oder mit den hysterischen Reaktionen der US-Medien, als beim Superbowl 2004 die Brust der Sängerin Janet Jackson aus dem Dekolleté rutschte. Ein Busenblitzer live auf Sendung, Schnappatmung! Youtuberin Kaspar ist überzeugt: "Über Plattformen wie Youtube oder Instagram kann man viel verändern." Je mehr Frauen sich trauten, in der Öffentlichkeit auf einen BH zu verzichten, desto selbstverständlicher werde das.

Zu Beginn ihres Experiments habe sie noch das Gefühl gehabt, dass man ihr auf die Brüste starre. "Nach einigen Wochen habe ich bemerkt, dass das Einbildung war. In Wahrheit", lacht sie, "hat niemanden interessiert, ob ich BH trage oder nicht."

Sieben Tage ohne

Die letzten Wochen im Homeoffice haben dazu geführt, dass viele Frauen den BH links liegen gelassen haben. Viel bequemer! Dieser Stoßseufzer der Erleichterung ging in den vergangenen Wochen durch die sozialen Netzwerke. Mittlerweile wimmelt es im Internet bereits von Absagen an das Wäschestück, von Videos, die überschrieben sind mit "Sieben Tage ohne", "Nippelalarm" oder schlicht und einfach "#brafree". Nicht zuletzt die Zensur weiblicher Brustwarzen auf Social-Media-Plattformen wie Instagram oder Facebook hat viele für die ungleiche Behandlung männlicher und weiblicher Geschlechtsmerkmale sensibilisiert und aktiv werden lassen.

Schon 2012 formierte sich die #FreeTheNipple-Bewegung, unter den Aktivistinnen fanden sich Promis wie Rihanna, Kendall Jenner oder Cara Delevingne. 2014 marschierte die Schauspielerin Scout Willis mit entblößten Brüsten durch New York, ein auf Twitter veröffentlichtes Foto der Aktion sorgte für Schlagzeilen. Auf Instagram wurden bisher 4,1 Millionen Bilder unter dem Hashtag FreeTheNipple, 135.000 unter #braless abgelegt. Die Bewegung ist so erfolgreich, dass das feministische Statement längst als modisches Verkaufsargument herhalten darf. Mit ihm lassen sich zwar keine BHs verkaufen, dafür wurden Sweater und T-Shirts mit zwei in Brusthöhe aufgemalten Halbkreisen zum Bestseller. Allein auf der Verkaufsplattform Etsy finden sich 1.230 Produkte unter dem Slogan.

Eine Erfindung der Nullerjahre ist die Absage an den BH natürlich nicht. Das Image des Wäschestücks, das Anfang des 20. Jahrhunderts das ebenso starre wie kiloschwere Korsett abgelöst hatte, galt spätestens seit den 60er-Jahren als angeschlagen. Der über die Jahrzehnte hinweg je nach Zeitgeist mal kugelig, mal flach, mal zugespitzt konstruierte BH war zum Symbol weiblicher Unfreiheit geworden: 1968 nahmen einige Hundert Feministinnen in Atlantic City an der amerikanischen Ostküste den Schönheitswettbewerb zur Miss America zum Anlass, den BH als "Instrument weiblicher Folter" öffentlichkeitswirksam in die Tonne zu treten. Es folgten zahlreiche Verbrennungsaktionen.

Dass der BH trotzdem nicht verschwunden ist und mittlerweile weniger stigmatisiert wird, mag zum einen Frauen wie Madonna zu verdanken sein. Der Popstar erklärte während der "Blond Ambition-Tour" 1990 das kegelförmige BH-Korsett vom Pariser Modemacher Jean Paul Gaultier zu einem Vehikel weiblicher Selbstermächtigung. Zum anderen setzt sich die Erkenntnis durch, dass der Verzicht auf den BH nicht für jede Frau einem Befreiungsschlag gleich kommt: Große Brüste sind eher auf Unterstützung angewiesen als kleine.

Vorbild Rihanna

Dem Bedürfnis nach stützender, nichtverkleidender Wäsche kommen junge Wäscheunternehmen entgegen. Sie reagieren auf einen internationalen Trend: Der Push-up hat ausgedient. Die New York Times rief im vergangenen Sommer aus: "Das Bralette ist zurück", das Branchenblatt Textilwirtschaft diagnostizierte 2018, dass 78 Prozent aller Händler eine gesteigerte Nachfrage nach BHs ohne Bügel beobachteten. Viele junge Unternehmen wurden von Frauen nach dem Vorbild von Rihannas Label Savage X Fenty gegründet: Sie bieten bequeme Wäsche an, bewerben ihre Produkte mit dicken, dünnen, faltigen Körpern und feministischen Botschaften.

Die in Wien lebende Designerin Marlies Forenbacher vom Wäschelabel Thezoo zum Beispiel produziert "bewusst keine Bras oder Bralettes mit Polsterung oder Reifen, weil die natürliche Brust einfach die schönste ist". Bis zum Abstreifen des BHs ist’s da nur eine lockere Handbewegung. (Anne Feldkamp, 25.5.2020)