Massimo Cacciari (75), Philosoph und einst hochgeschätzter Bürgermeister von Venedig: "Ich verachte die dummen hygienischen Vorstellungen der Bourgeoisie."

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Für manche nicht allzu stark Betroffene schienen die Ausgangsbeschränkungen noch ein Segen. Das Aussitzen der schlimmsten Pandemiefolgen verhieß solchen minder ernst veranlagten Geistern die Verwirklichung von zwei zur Nachahmung empfohlenen Praktiken: Abwarten und Teetrinken.

Falsch, beschied der slowenische Starphilosoph Slavoj Žižek postwendend allen Freunden von Aufgussgetränken. Die Kunst angemessener Corona-Bewältigung bestehe im Kaffeegenuss. Man konsumiert ohne Reue "Kaffee ohne Milch". Menschen, die ohnehin schon immer lieber allein gelebt hätten, hätten früher "Isolation ohne Milch" genossen. Sie wären jederzeit berechtigt gewesen, ihr Heim zu verlassen, entschieden sich jedoch aus freien Stücken dagegen.

Jetzt war es nur noch der pure Kaffee der Isolation, den die Betroffenen in geduldigen Schlucken schlürfen durften. Und so warb Žižek, der Allzweckphilosoph, unermüdlich um die Einsicht, dass man desto lieber in der tiefen Klemme sitzt, je bereitwilliger man die eigene, durchaus verzwickte Lage als bequeme Sitzhaltung auffasst. "Liebe dein Symptom wie dich selbst!", so lautet die entsprechende Anweisung aus der Asservatenkammer von Jacques Lacans Psychoanalyse, deren Paradoxien Slavoj Žižek seit jeher beherzigt.

Die Covid-19-Pandemie hat Europas Meisterdenker, in der Mehrzahl gut bestallte Herren reiferen Alters, in Aufruhr versetzt. Die Bedrohung durch das heimtückische Virus schien einem der mittlerweile vergilbten Postmoderne-Büchern des französischen Theoriestars Jean Baudrillard (1929–2007) entnommen.

Im Herzen des Systems

"Das Böse infiltriert wie ein Virus", gab Baudrillard einst im Nachhall zu 9/11 zu Protokoll. Die natürliche Genealogie der Feindschaften weise eine sukzessive Ausdehnung der Bedrohungspotenziale auf.

Gegen "Wölfe" könne man noch Befestigungsanlagen errichten. Die "Ratte" komme bereits aus der Kanalisation gekrochen. "Käfer" agieren als Aggressoren in drei Dimensionen, und erst das "Virus" mache alle Abwehrmaßnahmen vollends unwirksam, denn es sitze "im Herzen des Systems".

Aus dem Herzen der kulturellen Überlieferung heraus glaubte der Italiener Giorgio Agamben (78) argumentieren zu müssen. Den nationalstaatlichen Maßnahmen zur Eindämmung der Pandemie galt seine ganze Verachtung. Mit dem "Shutdown", verhängt über die nördliche Hälfte des Stiefels, schien "das ganze Land ethisch und politisch zusammengebrochen". Mit der Einstellung der Liebes- und Freundschaftsbeziehungen sei die "Schwelle zur Barbarei" überschritten.

Agamben, seit je mit der Freilegung des "Homo sacer" befasst, eines Menschen, der ganz Körper ist, entblößtes Leben, und eben darum nicht geopfert werden darf, beklagte bitter die zeitwillige Aussetzung von Bestattungsriten nicht nur in der Provinz Bergamo.

Durch den regierungsamtlichen Zugriff auf die nackte Physis würde der Leib seiner "kulturell-affektiven" Schutzhüllen beraubt. Schlimmer noch: Institutionen wie die Kirche hätten ohne Not Verzicht geleistet auf ihr kostbarstes Gut, die Herstellung von Nähe und Intimität durch eine Praxis der Barmherzigkeit, die, wie einst Jesus vor dem Aussätzigen, vor keiner Berührung zurückscheut.

Neue Umgangsformen

Auch andere Chefdenker schienen in den vergangenen Monaten von der Neuskalierung sozialer Umgangsformen nachhaltig beeindruckt. Peter Sloterdijk (72), selten um eine gute Provokation verlegen, zog sogar die "natürliche" Herkunft des Virus – als Produkt einer spontanen Mutation – in Zweifel.

Von der Idee des Handy-Tracking (und vom chinesischen Pandemie-Management) stark fasziniert, stellte Sloterdijk die Expansion der "Sozialkybernetik" als "Trendartikel" in Aussicht. Süffisanz scheint auf einem solchen Markt für Sicherheitsartikel eingepreist: "Jetzt ist jeder, absolut jeder eingeladen, sich bedroht zu fühlen." Als Imperativ aber erweise sich das Gebot absoluter Diesseitigkeit. Ihre Legitimation bezieht die Sacharbeit der Krisenprognostiker und Politiker aus dem Versprechen, eine Lebenserwartung über 80 für möglichst alle zu gewährleisten.

Sloterdijk, der die Etablierung neuer, Pandemie-erfassender Hilfswissenschaften wie einer "Labyrinthologie" oder "Hyperallergologie" fordert, gleicht in der atemlosen Suche nach dem einen, schlagenden Begriff, der das Monster Corona bannt und ihm zugleich die Giftzähne zieht, seinem Ex-Kollegen Peter Weibel vom Karlsruher ZKM.

Der sieht sich durch die flächendeckende Einführung von "Telearbeit" in seinen kühnsten Techno-Träumen bestätigt. Angst als "Herrschaftsmittel" ("Phobokratie") plage eine Gesellschaft, die ihrer eigenen vulgären Massenbasis, ihrer "Agglutinationen von Körpern", längst überdrüssig geworden sei. Der "Auszug der Kultur ins Netz", von Corona erzwungen, wird von Peter Weibel gefeiert wie weiland der Auszug der Israeliten aus Ägypten. Das gelobte Land hingegen scheint netzförmig angelegt und ermöglicht offenbar nicht allen von vornherein die Teilnahme an der Wertschöpfung.

So muss man sich umso nachdrücklicher auch internationale Stimmen wie die der indischen Autorin Arundhati Roy vergegenwärtigen. Die schilderte die unmittelbaren Auswirkungen der Pandemiemaßnahmen, die die Hindu-Regierung unter Premier Narendra Modi ergriffen hatte.

Chemisches Experiment

Corona, so Roy, sei ein "chemisches Experiment, das verborgene Dinge schlagartig ans Licht bringt." Berichtet hat die Romanautorin ("Das Ministerium des äußersten Glücks") z.B. von der Vertreibung unerwünschter Dienstleister aus Neu-Delhi, mit Stöcken geprügelt und Desinfektionsmitteln besprüht. Von gewaltsamen Übergriffen auf Muslims, die man der methodischen Verbreitung des Virus bezichtigte ("#Coronajihad") und an Leib und Leben bedrohte. Roy bildet als unermüdliche Aktivistin seit langem einen Unruheherd. Aber es scheint, als ob, unter dem Brennglas der Corona-Pandemie betrachtet, die Gegensätze auf dem Subkontinent sich neuerlich zuspitzen würden.

So sehr uns die Covid-19-Abstandsregeln auch wie ein unsichtbarer sanitärer Puffer umgeben werden: Die Technokratie der zumeist nationalstaatlich organisierten Pandemie-Bewältiger zielt zuallererst auf unsere Körper. Und macht aus uns, so der italienische Philosoph und Ex-Bürgermeister von Venedig Massimo Cacciari, brave "Haustiere".

Cacciari (75), der den Lockdown in Mailand erlebte, bezeichnete die darauffolgende Isolation als "Höllenstrafe" auf Erden. Vom großen ökologischen Segen, den die Stilllegung des öffentlichen Lebens für die venezianische Lagune bedeute, möchte der Ex-Hoffnungsträger der Linken eher nichts hören. Man könne auf Canaletto-Bildern die zahlreichen Verkaufsstände im Schatten des Campanile sehen. Die "dummen hygienischen Vorstellungen der Bourgeoisie" seien ihm, Cacciari, ein Gräuel. (Ronald Pohl, 23.5.2020)