In Berlin wurde gegen Verschwörungserzähler demonstriert. Im Echsenkostüm – eine Anspielung auf eine weitere Erzählung.

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Auch jenseits der Fake-News rund um das Coronavirus nutzen Verschwörungserzähler derzeit die aufgeheizte Stimmung, um ihre Ideen zu verbreiten. Aktuell weit verbreitet ist die Adrenochrom-Verschwörungstheorie, darüber hinaus sorgt US-Präsident Donald Trump mit Andeutungen für Verwirrung. APA-Verification-Officer Florian Schmidt analysiert im Gespräch aktuelle Phänomene.

APA: Was hat es mit der aktuellen Verschwörungstheorie zu Adrenochrom auf sich?

Florian Schmidt: Eine wachsende Zahl von Menschen geht davon aus, dass entführte Kleinkinder etwa in Amerika oder Europa in unterirdischen Anlagen gefoltert und missbraucht werden. Die Entführer sollen laut manchen Theorien Satanisten und Pädophile sein. Durch das Foltern soll das Stoffwechselprodukt Adrenochrom gewonnen werden können, das zum Beispiel von Hollywoodstars zur Bekämpfung des Alterungsprozesses verwendet wird.

APA: Woher kommt diese Theorie?

Schmidt: Wie jede Verschwörungstheorie baut auch diese auf vielen wahren Punkten auf. Es gibt viele ungelöste Fälle von verschwundenen Kindern, es gibt Fälle von Satanismus, Kannibalismus und natürlich auch enorme kriminelle Aktivitäten im Bereich Pädophilie. Adrenochrom gibt es als Stoffwechselprodukt wirklich, einen Mythenstatus erlangte es als Droge in dem Buch "Fear and Loathing in Las Vegas". Natürlich gibt es auch Hollywoodstars, die viel Geld investieren, um sich körperlich jung zu halten. Diese Fakten werden dann mit schwer zu widerlegenden Behauptungen ausgeschmückt: große unterirdische Netzwerke, Sklaverei und Folter, alle stecken unter einer Decke, Adrenochrom lässt langsamer altern, Hollywoodstars sind pädophile Satanisten et cetera.

APA: Warum glauben so viele Menschen an eine derart abstruse Theorie?

Schmidt: Diese Theorie funktioniert meiner Meinung nach gut, weil das "Setting" der Theorie viele wichtige Kriterien erfüllt. Zum einen natürlich die wahre Basis, die ich bereits genannt habe. Dann das Beschwören der bösesten Bedrohungen, die man sich in der Gesellschaft vorstellen kann – Kinderentführer, Satanisten, Pädophile. Das aktiviert Menschen, denn auch Verschwörungstheoretiker wollen oft Gutes tun und auf Missstände hinweisen. Nicht ihr Handeln ist fragwürdig, sondern ihre Handlungsbasis. Dann gilt es noch, Schuldige zu finden. Hollywoodstars sind da eine wunderbare Projektionsfläche, weil die jeder kennt. Man findet auch online viel Bildmaterial von ihnen, das man analysieren kann. Verschwörungstheorien leben von fleißigen Menschen, die von diesem "Setting" beziehungsweise diesem Logikmodell überzeugt sind und sich auf die Suche nach Hinweisen machen, um die Theorie zu untermauern.

APA: Gibt es ein aktuelles Beispiel?

Schmidt: Jennifer Lopez postete diese Woche etwa ein Selfie, auf dem Menschen im Hintergrund ein Gesicht mit einer Hand über dem Mund erkannten. Das Foto wurde sofort in diversen Gruppen zu Entführungstheorien geteilt. Vermutlich war es nur ein Zufall, und eine derartige Missinterpretation hätte genauso gut bei einem anderen der Millionen Selfies von Promis auftreten können. Durch unsere digitale Vernetzung kann so ein Zufall allerdings sofort zum vermeintlichen Beweis für derartige Theorien werden. Wenn diese vermeintlichen Beweise dann gesammelt werden, erhalten viele Menschen den Eindruck, dass sie keine Zufälle mehr sein können, weil sie die Größe der ursprünglich analysierten Datenbasis kognitiv nicht gegenüberstellen können.

APA: Gibt es einen Zusammenhang zwischen dieser Theorie und dem Coronavirus?

Schmidt: Inhaltlich eigentlich nicht. Ich denke dennoch, dass das aktuelle Erstarken derartiger Theorien mit der Unsicherheit zusammenhängt, die durch die Corona-Krise entstanden ist. Schon bei den Falschmeldungen zum Coronavirus zeigt sich, dass Menschen angesichts der plötzlich aufgetretenen Veränderungen in ihrem Alltagsleben nach Antworten suchen. Gerade dort, wo Wissenschaft, Politik, Medien oder Wirtschaft noch keine Informationen liefern können, suchen einige Menschen bei alternativen Quellen einen Halt und werden somit auch zum Ziel von Falschnachrichten oder größeren Verschwörungstheorien. Diese Kreise wissen nämlich schon längst, wie sie soziale Medien oder digitale Kanäle effektiv nutzen können.

APA: Welche Rolle spielt Donald Trump bei der Verbreitung von Fake-News in Bezug auf das Coronavirus?

Schmidt: Eine direkte Absicht zur Verbreitung von Fake-News würde ich Donald Trump nicht unterstellen. Manche Aussagen von ihm sind sehr unüberlegt und basieren nicht auf Fakten, das vergrößert natürlich die Reichweite von weniger belegten Gegenthesen. Oftmals werden seine Aussagen aber auch aufgebauscht und skandalisiert.

APA: Woran liegt es, dass seine Wortmeldungen auf so viel positive Resonanz stoßen?

Schmidt: Ein Vorteil von Trump ist auf jeden Fall seine Rhetorik. Er benutzt sehr leicht verständliche Begriffe, greift nur auf einen begrenzten Wortschatz zurück und vermeidet Fremdwörter. Viele seiner Anhänger wissen das zu schätzen und halten nichts von der Sprachakrobatik von Politikern und Journalisten. Wir dürfen nicht vergessen, dass es außerdem einen sehr großen Anteil an Menschen in der Gesellschaft gibt, die funktionale Analphabeten sind und hier ebenfalls besser erreicht werden.

APA: Wirkt sich das indirekt auf die Verbreitung von Verschwörungstheorien aus?

Schmidt: Seine simple Sprache öffnet Verschwörungstheorien die Tür. Trump ist oft unkonkret, weicht Details aus und macht oft mysteriöse Andeutungen. Vor kurzem beschuldigte er Ex-Präsident Barack Obama etwa nicht näher genannter Verbrechen und sprach von "Obamagate". Selbst auf Nachfragen folgten nur schwammig Aussagen. Die Freude war groß bei Anhängern von Verschwörungstheorien, die glauben, dass Trump gerade korrupte Politiker einsperren lässt, Pädophilenringe ausheben lässt oder ein heimlicher Held ist, der derzeit Europa in einer Geheimaktion von Pädophilen und Korruption befreit. (APA, 24.5.2020)