"Wir haben einen Digitalisierungsschub erlangt – vielfach unter Zugzwang, aber trotzdem", sagt die Rektorin der TU-Wien und Präsidentin der Universitätenkonferenz, Sabine Seidler, zum Corona-bedingten Umstieg auf digitale Lehre.

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Die Corona-Pandemie hat die Unis – hier eine Innenansicht der Universität Innsbruck – verwaisen lassen. Aber intellektueller Austausch braucht auch reale Präsenz und Nähe.

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Auch an den Universitäten sind seit Mitte März dank Coronavirus Lehre und Lernen auf Distanz angesagt. Fast der komplette Betrieb musste auf digitale Formen umgestellt werden. Zugleich stehen Forscherinnen und Forscher im Zentrum politischer Entscheidungsprozesse.

STANDARD: Wie bilanzieren Sie die rund zwei Corona-Monate nach dem überraschenden Wechsel zu digitalen Methoden?

Seidler: Am Anfang war das sehr abrupt und sicher auch ziemlich holprig, aber wir haben uns immer besser in diese Situation hineingefunden. Angesichts dessen, dass wir binnen dreier Tage das gesamte Hochschulsystem auf Distanzlehre umstellen mussten und schon zu Ostern einen Abdeckungsgrad von 80 Prozent hatten, kann man sagen, es ist zumindest quantitativ gelungen.

STANDARD: Was haben die Universitäten aus dem erzwungenen Auszug von Lehrenden und Studierenden lernen können?

Seidler: Wir sind immer noch beim Lernen. Wir haben einen Digitalisierungsschub erlangt – vielfach unter Zugzwang, aber trotzdem. Gerade im Bereich der Lehre hat sich gezeigt, was funktioniert und was nicht. Wir werden aus dieser Krise sicher viele Elemente mitnehmen, um den Lehralltag künftig abwechslungsreicher zu gestalten.

STANDARD: Was waren die größten Probleme? Die Schulen sind ja zum Teil an ganz basalen Dingen gescheitert: keine Endgeräte, kein WLAN, keine digitale Kompetenz.

Seidler: Das war ein Mix aus Soft- und Hardware. Auch an den Unis waren oder sind nicht alle Lehrenden und Studierenden flächendeckend mit der notwendigen Infrastruktur ausgestattet. Die größte Herausforderung, glaube ich, war aber das Umschalten auf eine vollkommen neue Art der Kommunikation mit den Studierenden.

STANDARD: In einer Umfrage im Auftrag des Bildungsministeriums durch das Public-Opinion-Strategies-Institut von Peter Hajek in der zweiten Aprilwoche beklagte die Hälfte der 517 befragten Studierenden mangelndes Feedback oder mangelnde Motivation durch die Lehrenden. Was ist da zu tun?

Seidler: Grundsätzlich glaube ich, dass wir das Ganze als Prozess sehen müssen. Es haben ja alle lernen müssen, auch die Lehrenden, und ich bin überzeugt, dass Umfragen zu verschiedenen Zeitpunkten dieses digitalen Lernprozesses auch zu unterschiedlichen Ergebnissen führen, weil die Lehrenden auch teilweise nachgezogen sind. Wir haben sicher auch große Fächerunterschiede. Es gibt Bereiche mit einer größeren Affinität zu digitalen Methoden und welche, die in ihrer grundsätzlichen Methodik davon weiter entfernt sind. Außerdem hat sich gezeigt: Nicht jede Didaktik, die im Präsenzbetrieb hervorragend funktioniert, klappt auch im digitalen Betrieb. Das heißt, die Lehrenden müssen auch lernen, mit diesen digitalen Medien umzugehen, und sich auch weiterbilden.

STANDARD: Sie sagten unlängst: "Digitale Lehre ist kein Sparmodell." Was heißt das?

Seidler: Man könnte ja diese Illusion haben: Wir haben jetzt mehr oder weniger erfolgreich die digitale Lehre umgesetzt, also brauchen wir keine Hörsäle mehr, keinen Präsenzunterricht, auch keine Büros, denn alle können ja von zu Hause aus lehren. Tatsächlich ist es so, dass intellektueller Austausch – zumindest sind wir im Moment noch so sozialisiert – nur über Videotools, wo drei Viertel der Information fehlen, weil man maximal das Gesicht, wenn überhaupt, aber nicht die ganze Körpersprache sieht, nur in bestimmten Grenzen möglich ist. Deswegen sehen wir die digitalen Formate als hervorragende Ergänzung, aber sie werden das Präsenzlernen nicht zu hundert Prozent ersetzen können. Außerdem braucht es dazu ganz andere Ressourcen im Hardwarebereich, aber auch bei der Umsetzung der Lehrveranstaltungen, weil diese Formate ja wesentlich stärker darauf abzielen, dass man sich im Selbststudium Wissen aneignet und dieses dann stark über den Diskurs überprüft und festigt. Das erfordert kleinere Gruppen von Studierenden. Es braucht also keinesfalls weniger Ressourcen. Vor allem aber gilt: Die digitale Lehre ersetzt die Präsenzuniversität nicht.

STANDARD: Ressourcen, vor allem finanzielle, werden nach der Corona-Krise, wann immer das sein wird, ein großes Thema werden. Denn für das Prinzip "Koste es, was es wolle" muss ja irgendwann gezahlt werden. Wie schätzen Sie die Chancen der Unis im bevorstehenden finanziellen Verteilungskampf ein? Bis Ende Oktober muss das Universitätsbudget für 2022 bis 2024 festgelegt sein. Besteht nicht die Gefahr, dass die Unis zwischen Arbeitsmarkterfordernissen und anderen Ausgaben unter die Räder kommen?

Seidler: Das wäre keine neue Erfahrung. Die Gefahr besteht immer. Ich bin trotzdem optimistisch, weil die Universitäten ja nicht nur als Bildungs-, sondern auch als Forschungsstätten eine wichtige Rolle spielen und uns gerade die letzten Monate gezeigt haben, wie wichtig Forschung ist. Ich hole meinen Optimismus ein klein wenig daraus, dass man verstanden hat, dass man den Forschungsbereich nicht schwächen darf, wenn man eine solche Pandemie bewältigen möchte.

STANDARD: Hat die Corona-Pandemie dem Wert von Wissenschaft bzw. der Autorität von Wissenschafterinnen und Wissenschaftern im öffentlichen Diskurs sowie in politischen Entscheidungsprozessen einen positiven Schub gegeben? Immerhin wurden Virologen, Epidemiologinnen, Modellrechner wie Niki Popper von Ihrer Uni, der TU Wien, zu den wichtigsten Krisenberatern der Politik.

Seidler: Ich glaube schon, dass die Wissenschaft genau in die Richtung evidenzbasierte Entscheidungsfindung an Bedeutung gewonnen hat. Es hat sich aber auch sehr deutlich gezeigt, dass man von der Wissenschaft keine einfachen Antworten erwarten kann, sondern dass der Diskurs zur Wissenschaft dazugehört. Aber es ist schon beeindruckend, wenn wir über Österreichs Grenzen hinausblicken, dass es eigentlich keine Spitzenpolitiker weltweit gibt, die nicht mit Wissenschafterinnen und Wissenschaftern an ihrer Seite auftreten, um zu erklären, warum bestimmte Maßnahmen getroffen werden oder nicht, unabhängig davon, ob man ihnen zustimmt oder nicht. Alle sehen jetzt, wie wichtig Forschung ist. (Lisa Nimmervoll, 25.5.2020)