Für die meisten Ökonomen weltweit gilt der Nobelpreis als die höchste denkbare aller Auszeichnungen. Für Kollegen in den USA ist das jedoch die "John Bates Clark Medal". Seit 1947 ehrt die American Economic Association damit die einflussreichsten Ökonomen unter 40. Die Liste der Empfänger der Auszeichnung liest sich wie das Who's who der Wirtschaftswissenschaften. Jeder Wirtschaftswissenschafter, der an einer US-Universität angestellt ist, kann nominiert werden. Entwicklungsökonomen finden sich immer wieder darunter: Esther Duflo, Nobelpreisträgerin 2019, erhielt die Medaille im Jahr 2010. Am 28. April diese Jahres ging die Auszeichnung wieder an eine junge Kollegin aus der Entwicklungsökonomie, Melissa Dell von der Harvard University in Boston.

Langfristige Auswirkungen

Melissa Dells bekannteste Studie, die auch die Grundlage für die Entscheidung der Jury war, führt uns in die ehemaligen Silberminen im Süden von Peru. Von 1573 bis 1812 zwangen dort spanische Kolonialherren die lokale Bevölkerung zum Abbau des Erzes. Das System der Zwangsarbeit ("mita") existierte nur in den Provinzen mit Silbervorkommen. Benachbarte Provinzen blieben verschont und setzten auf "Haciendas", große, von Spaniern geführte Farmen, die allerdings ebenfalls auf Zwangsarbeit beruhten.

Die Mita-Provinzen sind heute die ärmsten im Land: Im Vergleich zu allen anderen Provinzen verfügen die privaten Haushalte in den Mita-Provinzen um 25 Prozent weniger Kaufkraft. Verkümmertes Größenwachstum bei Kindern ist um sechs Prozent häufiger als im Rest des Landes. Dells Studie macht dafür den Mangel an Haciendas verantwortlich. Der Mangel an Arbeitskraft ließ offenbar keine doppelte Ausbeutung zu: entweder Silberminen oder Landwirtschaft. In den Mita-Provinzen entschieden sich die Spanier für die lukrativeren Silberminen, was nach dem Zusammenbruch der "mita" zur völligen Verarmung der Bevölkerungen führte.

Entwicklungsökonomen vermuteten schon seit den 1990er-Jahren, dass politische Strukturen über Jahrhunderte Entwicklungspfade beeinflussen können. Das Interessante an der Studie ist (neben der schönen methodischen Umsetzung) auch die Tatsache, dass die ebenfalls ausbeuterischen Haciendas zumindest besser waren als Minenarbeit.

Gleichzeitig erlaubt die exakte methodische Umsetzung in Dells Studie wenig Zweifel an der Interpretation. Könnten koloniale Strukturen am Ende nicht nur negativ für Entwicklung sein? In einer späteren Studie belegt Dell (gemeinsam mit Benjamin Olken vom MIT in Boston), dass indonesische Dörfer in der Nähe ehemaliger niederländischerZuckerfabriken im 19. Jahrhundert heute wohlhabender sind als Nachbardörfer. Auch hier gab es Zwangsarbeit auf den Zuckerplantagen und in den Fabriken. Die negativen Effekte dürften allerdings durch die verbesserte Infrastruktur mehr als ausgeglichen worden sein. Niederländische Kolonialherren investierten massiv in den Straßenausbau, um Zuckerproduktion mit Anbauflächen und Exporthäfen zu verbinden.

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Silbermine – hier in Mexiko.
Foto: ap

Positive Auswirkungen?

Die Annahme, dass sich Kolonialherrschaft positiv auf die spätere Entwicklung eines Landes auswirken kann, ist durchaus beachtenswert. Als Österreicher müssen wir gar nicht so weit in die Ferne blicken. In den letzten Jahren haben eine Reihe von Studien untersucht, ob die Verwaltung des Habsburgerreichs in Osteuropa längerfristige ökonomische Effekte hatte. Sascha Becker von der Monash University in Australien untersuchte mit einer Gruppe von Kollegen das Vertrauen der Bevölkerung in die öffentliche Verwaltung in einem 200 Kilometer breiten Gürtel diesseits und jenseits der ehemaligen Habsburgergrenze, die heute quer durch Polen, die Ukraine, Rumänien, Serbien und Montenegro verläuft. [1]

Einwohner dieser Staaten, die heute innerhalb der Grenzen des ehemaligen Habsburgerreichs leben, geben in Befragungen an, dass sie mehr Vertrauen in die Polizei und in Gerichte haben als Landsleute außerhalb der ehemaligen Habsburgergrenze. Auch die Bereitschaft, Bestechungsgelder zu zahlen, ist auf dem Territorium des ehemaligen Habsburgerreichs geringer als in der Vergleichsgruppe.

Karte des Untersuchungsgebiets.
Foto: Becker et al. 2016

Ein Studie von Pauline Grosjean (University of New South Wales, ebenfalls in Australien) untersucht in derselben Region (Osteuropa und Balkan), inwieweit die Zugehörigkeit zu einem der ehemaligen langlebigen Staatengebiete (Habsburg, Osmanisches Reich und Russisches Reich) das Grundvertrauen der heutigen Bevölkerung in ihre Landsleute beeinflusst. [2]

Das interessante Ergebnis: Die Frage "Finden Sie, dass man generell anderen Leuten trauen kann oder dass man nicht zu vorsichtig im Umgang mit anderen Leuten sein kann?" wird innerhalb der heutigen Staatsgrenzen signifikant unterschiedlich beantwortet. Doch innerhalb der ehemaligen Grenzen der vier großen Reiche geben die Bewohner dieselben Antworten. Zugehörigkeit zu weniger langlebigen oder noch nicht so lange existierenden Staatensystemen wie der UdSSR, der EU oder den neuen Staaten auf dem Balkan beeinflusst die Antwort nicht.

Die kulturelle Zugehörigkeit (abgebildet durch das Geben derselben Antwort auf eine Frage zum allgemeinen Grundvertrauen) wird also vom jahrhundertelangen Zusammenleben mehr beinflusst als von neu gezogenen Staatsgrenzen. Ob zum Guten oder zum Schlechten –politische und ökonomische Systeme aus der Vergangenheit beeinflussen Wohlstand und kulturelle Zusammengehörigkeit noch Jahrhunderte später. (Valentin Seidler, 26.5.2020)

Valentin Seidler ist wissenschaftlicher Mitarbeiter am Institut für Makroökonomie der WU Wien. Nach der Promotion im Jahr 2011 folgten Forschungsaufenthalte in Princeton, Warwick und Groningen. Von 2002 bis 2011 arbeitete Seidler für das Rote Kreuz in Osteuropa, Afrika, Asien und in Brüssel.
Foto: privat