Das Ei ist noch gar nicht gelegt und wird bereits zu bemalen versucht. Ein Impfstoff gegen Covid-19 hat noch nicht einmal die Nähe eines Reagenzglases gesehen, eine Impfpflicht wird aber bereits heftig diskutiert. Der Großteil der Menschheit hofft, mit einer Vakzine ein lästiges und gefährliches Virus in Schach halten zu können. Eine kleine Minderheit dagegen hofft auf den Impfstoff, um die Rolle als Seuchenfreund demonstrativ zelebrieren und sich in seinen Verschwörungsfantasien bestätigt fühlen zu können. Zehn Anmerkungen zu den Hintergründen der Seuchenbegeisterung und den Perspektiven einer Seuchenbekämpfung.

1. Wir müssen die Dinge beim Namen nennen. Wer Schutzimpfungen gegen ansteckende Krankheiten verweigert, ist weder Impfkritiker noch Impfskeptiker, er ist ein Seuchenfreund und zumeist stolz darauf. Wer sich nicht impfen lässt, lebt nicht "natürlich", er glaubt nur an sein "natürliches" Recht , andere gefährden zu dürfen. Wer von einem "individuellen Impfentscheid" schwadroniert, sagt: "Schwächere gehen mich nichts an." Das Faible für das fast fanatische Pflegen und Hegen von Plagen und Seuchen fußt nicht auf Argumenten, sondern auf Werten und Ideologien. Schön sind die allesamt nicht, wir müssen trotzdem darüber reden. 

Impfkritik anno 1933: Die Nazis warnten vor "naturfernen" jüdischen Ärzten
Foto: Psiram

2. Impfungen sind das Gift der Juden. Zumindest suggeriert das ein Sujet im Nazi-Hetzblatt "Der Stürmer" aus dem Jahr 1933. Eine deutsche Mutter hält ihr Baby im Arm bei einem Arztbesuch. Die blonde Frau klagt besorgt: "Es ist mir sonderbar zumut, Gift und Jud' tut selten gut." Der Arzt hat eine Spritze in der Hand und eine Hakennase und er lächelt diabolisch, als er die Nadel ansetzt. Der Sonderdruck der "Reichsdeutschen Impfgegner" ist bereits vergilbt, die Geisteshaltung dahinter quillt trotzdem hie und da an die Oberfläche. Die Nazis warnten davor, sich in die Hand "naturferner und verirrter Mediziner zu begeben." Heute warnt die sprichwörtliche Anti-Vax-Mom in der Schlange an der Kasse des Bioladens vor "Schulmedizin", "Big Pharma" und dem "Giftcocktail" der Impfungen. Die antisemitischen Codes sind diesem Soziotop mitunter nicht bewusst. Anders dürfte es bei den Leuten sein, die in Sachen Seuchenbegeisterung das Kommando übernehmen: offen antisemitisch agierende Verschwörungsplauderer, die rechte Staatsverweigerer- und Wutbürgerszene. Auch die "Identitären" haben das Thema für sich entdeckt. Unlängst versuchten sie mit einem etwas holpertatschig geratenen "Straßentheater" in Wien zu provozieren. Dabei bedrohte ein als Sebastian Kurz verkleideter Kasper im weißen Mantel Passanten mit einer überdimensionalen Spritzen-Attrappe. Es wächst offenbar zusammen, was zusammengehört. 

Anti-Vax-Demonstrant in London.
Foto: AFP/JUSTIN TALLIS

3. Wer krepiert, hat es verdient. "Gegen das Karma kann man nicht heilen", verkündete einst Rudolf Steiner, der Begründer des Universaldilettantismus "Anthroposophie". Krankheiten gelte es tapfer durchzustehen, Impfungen brächten das fragile Gleichgewicht von Seele und Bestimmung durcheinander. Man kann es auch unromantisch formulieren: Wer krepiert, der hat es auch verdient. In Deutschland brachte jüngst der populäre anthroposophische Unternehmer Joseph Wilhelm die Menschenverachtung und die Virusverehrung dieser Szene auf den Punkt. Der Chef der anthroposophischen, "bio-dynamischen" Lebensmittelmarke "Rapunzel" schwärmt von den Viren, sie leisteten einen "wertvollen Beitrag zur Weiterentwicklung des biologischen Lebens und der menschlichen Anatomie und Psyche." Das klingt gut, zumindest so lange man nicht in einer Intensivstation am Schlauch hängt. In der Causa zeigt der Biounternehmer Flagge: "Impfen? Nur über meine Leiche, das bin ich mir wert."

4. Keine Gesellschaft, kein Herdenschutz. Im Jahr 1987 brachte die britische "Eiserne Lady" Margaret Thatcher den Neoliberalismus auf den Punkt: "So etwas wie eine Gesellschaft gibt es nicht." Das Inidviduum hätte sich um sich zu kümmern und um seine Familie. Impfgegner haben das Wesen dieser Ideologie durchaus plausibel für ihre Agenda verinnerlicht. Welchen Sinn soll ein Herdenschutz haben, wenn es so etwas wie eine Gesellschaft nicht gibt? Wer bei Diskussionen moniert, dass Impfungen nicht nur das Ego schützen sollen, sondern alte, verletzliche, kranke und schwache Mitglieder der Gesellschaft, stößt zumeist auf blankes Unverständnis. Man hört: "Ich gehöre gar nicht zur Risikogruppe, warum sollte ich mich impfen lassen?" Sehr schön bringt dieses Gemenge von Egoismus, Arroganz und Ignoranz ein in der Szene beliebtes Meme auf den Punkt: "Wenn ungeimpfte Menschen geimpfte Menschen gefährden, gegen was hilft dann die Impfung?" Auch wenn es manchen politischen Proponenten schwer fallen wird: Ohne Solidarität zu adressieren und Verantwortung für die Gesellschaft einzumahnen, wird der Appell zu Impfungen inhaltsleer erscheinen und eine Impfpflicht argwöhnisch betrachtet werden.

Große Klappe, nichts verstanden. Seuchenfreunde in Bestform.
Screenshot: Facebook / Kreil

5. Ein kleiner Teil der Bevölkerung ist nicht mehr erreichbar. Wer die Tatsache nicht akzeptiert, dass Impfungen zu den größten Erfolgsgeschichten der Medizingeschichte zählen, wird mit Statistiken zur weltweiten Auslöschung von Seuchen nicht zu beeindrucken sein. Das gilt auch für Menschen, die ernsthaft glauben, dass uns Bill Gates und seine sinistren Freunde mit einer Injektion auch einen Chip implantieren wollen. Diese Menschen werden dem Robert Koch-Institut kein Ohr schenken, weil sie sich das Thema lieber von Elektroingenieuren, Hochstaplern und Schlagersängern erläutern lassen. In deren Youtube-Vorlesungen wird mehr Abwechslung geboten – mal gerät die Suada launig, mal hasserfüllt, mal larmoyant, mal antisemitisch. Eine Konstante ist: Auf Wissenschaftlichkeit und Evidenz wird gepfiffen. Ein kleiner Teil der Gesellschaft – das muss man einfach akzeptieren – ist für die Diskussion verloren. Diese Menschen sind laut, aber ihre Anzahl ist geringer, als die in den Social Media-Echokammern hallende Kakophonie des Irrsinns vermuten lässt. Kampagnen sollten sich darauf konzentrieren, das Verantwortungsbewusstsein der oftmals leisen Mehrheit zu stärken – und zwar mit Emotionen und starken Bildern.  

6. Starke Metaphern sind gefragt. Man kann über die Weitergabe eines potenziell tödlichen Virus genauso wenig frei entscheiden, wie über den eigenen Alkoholkonsum als Verkehrsteilnehmer. Es gibt keinen "individuellen Alkoholentscheid", sondern eine 0,5-Promille-Grenze. Dass ich am besten zu wissen glaube, wie viel Bier ich vertrage, zählt nicht. Meine Beteuerung, dass ich vom Zeltfest gut abgefüllt, vorsichtig, und nur auf Nebenstraßen nach Hause fahre, wird den Herrn Inspektor nicht beeindrucken. Mein Argument, wonach um drei Uhr früh kaum noch Kinder auf der Straße spielen, die ich als Alkolenker gefährden könnte, ist hohl. Sache ist: Wer alkoholisiert fährt, gefährdet Menschen. Sache ist ebenso: Wer Impfungen verweigert, gefährdet Menschen. Seuchenfreunde sind die Alkolenker der Gesundheit. Das spräche für gesetzlich geregelte Impfmaßnahmen. Die Metapher mit den Alkolenkern ist freilich starker Tobak und sollte der Diskussion nur den Deckel aufsetzen. Es geht auch mit schönen Bildern.

7. Positive Emotionen sind der Schlüssel. "Ein Piekser für Oma und Opa". Ein kleiner Stich in den Oberarm ist es nur, der die Großeltern schützt. Das Sujet liegt auf der Hand: Hier ein junges Mädchen, das tapfer die Impfung hinter sich gebracht hat, dort die betagte Oma im Schaukelstuhl. Oder: "Mein Jaukerl für den Kollegen". Sujet: Der tätowierte Muskelprotz, der die spitze Spritze ein wenig scheut, der aber an den schwer erkrankten und immunsupprimierten Kollegen im Krankenhaus denkt, der sich wegen einer Krebstherapie nicht selbst schützen kann. Der Fantasie für stimmige Sujets sind keine Grenzen gesetzt.

8. "Der Piekser aus Verantwortung". Die Tonality der "Schau auf Dich, schau auf mich"-Kampagne kann durchaus übernommen werden: "Ein Piekser für Dich - der Schutz für mich". Die Impfung verlässt damit die Ecke einer passiv erduldeten Pflicht, die der Bürger über sich zu ergehen lassen hat. Die Impfung wird zu einem bewusst gesetzten Statement und zu einem Akt, den ich aktiv setze, für meine Lieben ebenso wie für schutzbedürftige Menschen, die ich gar nicht kenne. Das darf in jedem Sinn des Wortes unter die Haut gehen: "Ein Piekser aus Verantwortung“, dem sich kaum jemand mit guten Gewissen zu entziehen wagt.

9. Die pseudomedizinisch kontaminierten Experten: Der Anstoß zu Impfungen und die stimmigen Testimonials müssen aus der Mitte der Bevölkerung kommen. So begrüßenswert die Stellungnahmen der Ärztekammer zu einer Impfpflicht und gegen Impfmythen auch ist: Die pseudomedizinische Kontamination der Berufsvertretung ist Tatsache. Die Kammer spannt ihre schützenden Schwingen auch über hunderte homöopathische Ärzte, die Zuckerkugeln in Gläsern mit Fantasieetiketten als Medizin verschreiben und auch über anthroposophische Schwurbel-Ärzte, die Krankheit als Strafe deuten und Impfungen als Störung des ewigen Kreislaufs des Lebens empfinden. Mit anderen Worten: Wer in seinem Segelclub Leute akzeptiert, die von Törns an den Rand der Scheibe schwadronieren, dem nimmt man die Expertise zur Weltumsegelung nicht ab. 

10.  Eine Sache für das Hohe Haus, nicht für das Hinterzimmer. ÖVP, SPÖ, Grüne und Neos stehen Impfungen grundsätzlich positiv gegenüber. Die FPÖ hat offensichtlich die Nische der Verschwörungsplauderer und Seuchenfreunde entdeckt, richtet es sich dort gemütlich ein und wird Teil der Freakshow. Auch wenn es eine physische Impfpflicht nicht geben wird, bleibt zu hoffen, dass der Gesetzgeber mit möglichst breiter Mehrheit die verantwortungsbewusste Mehrheit der Menschen belohnt, die sich impfen lassen. Und vor allem bleibt zu hoffen, dass nicht Berater aus den Hinterzimmern der Kabinette ungefragt das Wort ergreifen. Aus Gründen: Vor wenigen Wochen flötete Antonella Mei-Pochtler, eine Beraterin von Bundeskanzler Sebastian Kurz, dass wir mit Tracking-Apps und Maßnahmen "am Rande des demokratischen Modells" leben lernen müssten. Danke, ich persönlich hatte fertig, und schon war die Corona-App des Roten Kreuzes – der gegenüber ich zuvor vorsichtig positiv eingestellt war – von meinem Handy gelöscht. Heikle Angelegenheiten – und dazu gehört neben dem Umgang mit meinen Bewegungsdaten umso mehr der Umgang mit meinem Körper – sähe ich gerne in im Zentrum des "demokratischen Modells" auf breiter Basis diskutiert und reglementiert. Eine Impfmotivation, die eine smarte Kanzlerberaterin aus ihrer schicken Handtasche zaubert, wird vermutlich ebenso wie die "verbindliche App" ein Rohrkrepierer. Impfungen sind Chefsache, und der Chef ist das Parlament. Bis zur Marktreife des Impfstoffs ist noch Zeit, ich wünsche den verantwortlichen Abgeordneten, diese sinnvoll zu nutzen und der Regierung die richtigen Aufträge zu erteilen. (Christian Kreil, 4.6.2020)  

Weitere Beiträge des Bloggers