Mario Vargas Llosa (84) erkundet geduldig die Mentalität der Mittel- und Südamerikaner: Ein Könner lädt zur literarischen Inventur.

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Der Held des neuen Vargas-Llosa-Romans "Harte Jahre" agiert diskret im Hintergrund. Doch seinetwegen werden in Mittel- und Südamerika blutige Putsche angezettelt, Exzellenzen ermordet, Indios ausgebeutet, Gewerkschaftsgründungen im Keim erstickt. Besagter Held ist ein verwegen anmutendes Gespenst. Es schleicht um protzige Präsidentenpaläste in Guatemala und anderswo herum und hört auf den Namen "Kommunismus".

Allein im Verdacht zu stehen, sozialistische Ansichten zu vertreten, kann honorige Akademiker, aber auch einen rechtmäßig gewählten Staatspräsidenten Ruf und Karriere, zuletzt das Leben kosten. Der spanisch-peruanische Literaturnobelpreisträger Mario Vargas Llosa zeigt, wie ein ganzer Kontinent das kommunistische Gespenst mit dicken, alarmierenden Lettern an die Wand malt. Veranlassung dazu liefert die United Fruit Company. Die schlachtet zur Mitte des vorigen Jahrhunderts die Anbaugebiete aus und genießt, von jeder Steuerlast befreit, die Bananenfrüchte ihres schändlichen Monopols.

In der Konzernzentrale registriert man voller Furcht das Aufkommen eigensinniger Machthaber im Hinterhof der USA. Wörter wie "Bodenreform" hallen unheilverkündend in den Ohren wider. Der Sigmund-Freud-Neffe Edward Bernays wird mit der Entfesselung einer regelrechten Sudelkampagne beauftragt: Die liberale Presse soll den Popanz einer sowjetischen Einflussnahme in der bettelarmen Region errichten.

Schluss mit Reformen

Alle anderen Figuren in Vargas Llosas literarischem Wimmelbild sind bloße Ableitungen: Gespenster zweiter Ordnung. Eine zauberhaft schöne guatemaltekische Patriziertochter avanciert zur Geliebten eines Putschisten-Kapos. Oberst Castillo Armas macht, vom CIA gepusht, in Guatemala Schluss mit den zaghaften Versuchen einer Landreform. Die Eliten bedienen sich ungehobelter Klötze, um den ohnehin schmächtigen Liberalismus niederzuwerfen.

In ihrem Gefolge aber tummeln sich die wahrhaft interessanten Figuren dieses Höllengemäldes: Sportwettkönige, die sich als Kerkermeister im Folterkeller der aktuell amtierenden Junta wiederfinden. Die sich Monstren wie dem gefürchteten dominikanischen Diktator Trujillo anschließen und sich, zu schlechter letzt, von den Hetzmeuten "Papa Doc" Duvaliers auf Haiti in Stücke hacken lassen (müssen).

Vargas Llosas kandidierte 1990 bekanntlich einst selbst (vergeblich) für das Amt des peruanischen Präsidenten. Seine "political fiction" stößt aktuell dann an ihre Grenzen, wenn sie, obwohl brav sternförmig erzählt, unter der schieren Last der zu referierenden Fakten einzuknicken droht. Jahre und Regierungsperioden vergehen im Nu. Zu anderer Gelegenheit kriecht man förmlich hinein in die Hirne überforderter Potentaten, die verzweifelt nach Luft ringen, weil ihnen die unsichtbare Hand von "Uncle Sam" die Kehle zusammendrückt.

Die Protagonistin dieser Harten Jahre, die rätselhafte Juristentochter Marta ("Martita") Parra, will Vargas Llosa als hochbetagte Emigrantin selbst getroffen und über ihr abenteuerliches Leben ausführlich einvernommen haben. Doch mehr noch als in seinem Roman "Fest des Ziegenbocks" (über Diktator Rafael Trujillo) verwischt der greise Meisterprosaist die Grenzen zwischen den Genres und den ihnen jeweils zugrunde liegenden Kategorien.

Anspruch auf Dämonie

Diktatoren, so lernen wir, benehmen sich dann wie Figuren aus dem gehobenen Dienstmädchenroman. Ihren Bütteln hingegen erwächst unter der Hand eines großen Könners der Anspruch auf eine Dämonie, die z.B. in den guatemaltekischen Prostituiertenvierteln bestens aufgehoben scheint.

Niemand der hier Handelnden besitzt eine einigermaßen belastbare Vorstellung dessen, wodurch sein Tun angeleitet wird. Die geduldige moralische Güterabwägung eines Graham Greene ("Der Honorarkonsul") sucht man hier vergebens. Und doch bringt Vargas Llosa in diesem – bestimmt nicht seinem besten – Buch die kolonialen Verhältnisse wiederholt zum Tanzen. Putschisten kommen und gehen. Was bleibt, stiften nicht die Dichter, sondern die Gespenster. Und wenn man sie zum Zwecke der Unterdrückung eigens erfinden müsste. (Ronald Pohl, 26.5.2020)