Poetische Bande zwischen Goyas Ministernichte Sabasa García (Bild) und der 1954 ermordeten Arbeiterin Catarina Eufémia.

Foto: Goya, „Señora Sabasa Carcía“, 1804

Regisseur Tiago Rodrigues will den Menschen nach der Pandemie die Poesie zurückgeben. "Catarina", sein jüngstes Stück, ist auf 2021 verschoben

Franzi Kreis

STANDARD: Ihr Stück "Catarina" basiert auf der Idee, in die Realität einzugreifen. Jetzt hat die Realität zugeschlagen, bevor es Premiere haben konnte. Wie beschreiben Sie unser Verhältnis zur Wirklichkeit heute?

Rodrigues: Ich denke, dass die Medienwelt heute eine große Tabula-rasa-Fläche bietet, auf der sich jeder seine eigene Realität kreieren kann. Zugleich sehen wir, dass diese Pandemie wie durch ein Brennglas all jene Probleme schmerzhaft zum Vorschein bringt, mit denen wir seit Jahrzehnten auf eher ignorante Art umgegangen sind, vor allem die soziale Klassifizierung. Auch die Klimakrise: Sie wird von Corona verdrängt, aber auch beleuchtet. Derzeit erleben wir die Generalprobe für die Art von Krisen, die uns bis zum Lebensende beschäftigen werden. Wir müssen also am Theater die Zukunft befragen.

Wiener Festwochen

STANDARD: Wann kann das Stück Premiere haben?

Rodrigues: Wir planen die Premiere für September in Portugal. Ab Oktober wollen wir inter national touren und damit 2021 auch nach Wien kommen. Derzeit sitzen wir auf einem Haufen von Notizbüchern. Am 20. Mai sollen die Proben wieder starten. Ich wollte das Stück während der Quarantäne fertigschreiben, aber wir sind alle von Unruhe umgeben. Ohne Ruhe entsteht keine Poesie.

STANDARD: Wie hat die Krise bisher inhaltlich auf das Stück gewirkt?

Rodrigues: Was ich jetzt weiß, ist, dass wir das Stück, das in seiner thematischen Setzung recht konkret ist, nicht mehr so explizit werden machen können wie geplant. Es geht darin ja um die enorme Ohnmacht gegenüber populistischer Politik und faschistischen Tendenzen. Jetzt aber ist die Zeit gekommen, den Menschen die Poesie zurück zugeben. Alles ist derzeit so schwarz-weiß, mit so strengen Regeln, sodass wir am Theater Geheimnisse und Schönheit auf die Bühne holen müssen, sobald wir sie wieder betreten dürfen. Catarina wird also kein Stück werden, das in der Gegenwart spielt, sondern in der nahen Zukunft. Es wird ein Versuch, uns selbst in eine ungewisse, spekulative Zukunft zu projizieren, in eine Zeit, die sich nicht auf Fakten aus der Zeitung oder auf die Straßen da draußen bezieht.

STANDARD: Der ursprüngliche Plot erzählt von einer Familientradition, die es für jedes Mitglied vorsieht, einen Faschisten zu töten. Hat sich das geändert?

Rodrigues:_Nein. Diese Erzählung ist gleich geblieben. Es verändert sich weniger die Story als die Art, wie wir sie erzählen. Die Pandemie hat die Geschichte übertroffen. Wir müssen uns in eine postpandemische Zeit imaginieren, in eine Zeit, in der Dinge möglich geworden sein werden, die wir nie als real eingestuft hätten, sondern eher mit Katastrophenszenarien aus Hollywood-Filmen verbinden.

STANDARD: Was wird in "Caterina" also passieren?

Rodrigues: Wir fragen danach, inwiefern Gewalt taugt als Reaktion auf populistische Politik, die die Demokratie aushöhlt und die in ihrem Namen rechtsradikal agiert, oft inspiriert von faschistischem Gedankengut. Die Frage ist mir sehr wichtig, denn die Wirtschaftskrise, die auf Corona folgen wird, wird auch den Nährboden für rechtsradikale Machthaber bereiten. Populisten sind eine globale Bedrohung; sie benutzen Demokratie, um dieselbe zu zerstören. Wie kann das verhindert werden? Das ist unsere Frage.

STANDARD: Wie haben Sie bisher weitergearbeitet?

Rodrigues: Da ich derzeit, wie vorhin erwähnt, keine Szenen schreiben kann, schreibe ich Songs. Ich baue dabei auf italienischen Arbeiterinnenliedern aus der antifaschistischen Bewegung auf. Diese Lieder gemeinsam zu singen wird das Erste sein, was wir beim Wiedersehen machen werden. Wir haben in der Zeit der Isolation auch Verschiedenes auf Distanz probiert – aber die Wahrheit ist, nichts, gar nichts kann die physische Präsenz ersetzen.

STANDARD: Sie sind Direktor des Nationaltheaters in Lissabon. Wie ist bei Ihnen die Lage?

Rodrigues: Die oberste Priorität neben der Gesundheit war für mich, dass wir allen, mit denen wir arbeiten, seien sie frei oder angestellt, von Technikern bis Künstlerinnen, die Honorare zu 100 Prozent auszahlen. Das ist budgetär sehr hart, aber ich bin überzeugt, dass es das beste öffentliche Service ist, das wir unserem Land bieten können. In Portugal gibt es keine gute Ab sicherung für Künstler. Da wir eine öffentliche Institution sind, sehe ich es als meine Pflicht an.

STANDARD: Wie wird Theater im Herbst aussehen?

Rodrigues: Wir diskutieren derzeit die roten Linien: Wird Richard III. Lady Anne künftig aus drei Meter Entfernung verführen müssen? Und was, wenn er sie berührt? Wie werden wir eine Berührung am Theater einordnen? Wir werden aus dem Häuschen sein! Wie lange werden wir die Regeln befolgen? Die nächsten Monate werden gewiss neue Weichen stellen. (Margarete Affenzeller, 27.5.2020)