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Jill und Joe Biden haben in letzter Zeit nur für eine Kranzniederlegung ihr Haus verlassen.

Foto: AP Photo/Patrick Semansky

Neulich waren Gänse zu hören. Joe Biden saß auf der Veranda seines Hauses am Rande von Wilmington im US-Bundesstaat Delaware, ringsum zartes Grün. Er schaute in eine Kamera, sagte ein paar Sätze, hörte seinen Gesprächspartnern zu, der Gouverneurin von Michigan und deren Amtskollegen in Connecticut und New Jersey, und schaltete sich wieder ein. Bei dem virtuellen runden Tisch ging es um Corona, um den Wirtschaftseinbruch, um 36 Millionen vernichtete Jobs und eine Arbeitslosenquote von 15 Prozent, die höchste seit der Großen Depression.

Irgendwann schnatterten im Hintergrund Gänse, die Gäste an den Bildschirmen lächelten, Biden versuchte es mit einem Scherz. Er sprach von kanadischen Zugvögeln, die dem Virus wohl zu entfliehen versuchten. Der Ernst der Lage und das beschauliche Vorortidyll: Es ist nicht ganz einfach, Wahlkampf zu machen, wenn einen die Epidemie in die räumliche Isolation zwingt.

Nur zur Kranzniederlegung hinaus

Der Kontrast könnte kaum schärfer sein. Donald Trump, der im Laufe der Pandemie schon etliche abstruse Thesen gestreut hat, inszeniert sich im staatstragenden Ambiente des Weißen Hauses. Sein Herausforderer, der meist ausgesprochen staatstragend klingt, meldet sich von einem Anwesen an einem Bach namens Little Mill Creek zu Wort. Biden ist 77, bis auf eine Kranzniederlegung an einem Denkmal für gefallene Soldaten hat er sein Domizil seit Mitte März nicht mehr verlassen.

Immerhin, seine virtuellen Auftritte sind professioneller geworden. Anfangs saß er im Keller, die Kulisse ein unaufgeräumtes Bücherregal. Die Verbindung war schlecht, mal ruckelte das Bild, mal fiel es ganz aus. Inzwischen ist nicht nur das Regal aufgeräumt, auch die Technik funktioniert, und Biden sitzt jetzt öfter im Freien, auf seiner Terrasse, wenn er sich irgendwo zuschalten lässt. Es wirkt weniger klaustrophobisch, aber immer noch amateurhaft. Kein Vergleich zu den Vorstellungen im Flaggenprunk des Weißen Hauses.

Anfangs keine fundamentalen Reformen

Der einstige Stellvertreter Barack Obamas war angetreten, die alte Ordnung wiederherzustellen. Er versprach die Rückkehr in die Welt vor Trump, zu Empathie anstelle egoistischer Kälte, zu zivilem Diskurs anstelle von Tiraden, die keine Hemmschwelle kennen. Ansonsten sollte sich, so seine Worte, fundamental nichts ändern. Von radikalen Reformen war bei ihm nicht die Rede, das Radikale überließ er seinen linken Rivalen, dem leidenschaftlichen Bernie Sanders und der gründlichen Elizabeth Warren, die von großem Strukturwandel sprach.

Genau das ändert sich jetzt. Zum einen liegt es daran, dass Biden auf die Parteilinke zugehen muss, um zu vermeiden, dass deren Anhänger am 3. November aus Frust nicht wählen und damit Trump den Weg zum Sieg ebnen. Zum anderen spricht er immer öfter von einer Ausnahmesituation, die mindestens so dramatisch sei wie die Große Depression der 1930er-Jahre und deren Bewältigung einen staatlichen Kraftakt erfordere, der vielleicht noch hinausgehe über das, was Franklin D. Roosevelt alias FDR mit dem "New Deal" zu leisten hatte.

Was es auch braucht

Natürlich gibt es ihn noch, den Kandidaten, der sich schlicht als die vernünftigere, freundlichere Alternative zu Trump präsentiert. Eine Krise offenbare bekanntlich den Charakter eines Menschen, merkte er im Gespräch mit dem eingangs zitierten Gouverneurstrio an. Diese Krise zeige, wie gefährlich und inkompetent Trump sei. "Im hellen Tageslicht erkennen wir, welchen Preis wir zu zahlen haben für seine Eitelkeit, seine Paranoia und seine Weigerung, sich der Wahrheit zu stellen. Wir sehen einen vollkommen überforderten Mann."

Das klingt kaum anders als das, was er schon zu Zeiten sagte, als er im Wahlkampfbus noch von Turnhalle zu Turnhalle fuhr. Neu ist der Vergleich mit Roosevelt. "Vielleicht haben wir es mit der größten Herausforderung der modernen Geschichte zu tun", sagte Biden dem CNN-Moderator Chris Cuomo. "Sie wird womöglich in den Schatten stellen, womit FDR konfrontiert war." Der Fiskus, betont Biden, müsse so viel Geld ausgeben, wie zum Aufstieg aus dem Tal nötig sei – "whatever it takes". Selbst wenn man sich Sorgen über ausufernde Schulden mache, seien massive Investitionen der öffentlichen Hand der einzige Weg, um die Wirtschaft wieder wachsen zu lassen. Der Kandidat habe klar signalisiert, dass es nicht genüge, "einfach dahin zurückzugehen, woher wir gekommen sind", sagt sein Wirtschaftsberater Jared Bernstein.

Ideen der Linken

Die Rückkehr zum Status quo ante, zur Normalität nach Trump'schen Verbalexzessen – es sind Parolen von gestern. Einige Ideen der Linken hat Biden bereits übernommen. Dazu gehört ein Vorschlag der Senatorin Warren, Schulden aus dem Studium, die Folge exorbitanter Studiengebühren, im Falle einer privaten Insolvenz zu erlassen. Noch vor Monaten hatte er sich hartnäckig dagegen gesträubt. Arbeitsgruppen, die er gemeinsam mit Sanders ins Leben rief, sollen skizzieren, wie es auf Dauerbaustellen vorangehen kann, etwa im Gesundheitssystem oder bei der Einwanderungspolitik. Alexandria Ocasio-Cortez, für linke Demokraten fast so etwas wie eine Ikone, leitet die Taskforce Klimaschutz, gemeinsam mit Ex-Außenminister John Kerry.

Zwar lässt momentan nichts darauf schließen, dass sich Biden auch "Medicare for All" zu eigen macht, das von Sanders bevorzugte Konzept einer steuerfinanzierten Gesundheitsfürsorge, die auf private Krankenversicherungen völlig verzichtet. Doch dass er sich auch in diesem Punkt auf den progressiven Flügel zubewegt, steht außer Zweifel. Offenbar geht Biden bei seinem Schwenk von der Annahme aus, dass eine Mehrheit der Wähler angesichts der Pandemie bereit ist, staatliche Eingriffe in einem Maße zu akzeptieren, wie es vor der Pandemie einfach nicht vorstellbar war.

Noch vor Trump

Die Demoskopen sehen ihn momentan vorn im Rennen ums Weiße Haus. Nach einem von der Website Real Clear Politics ermittelten Durchschnitt mehrerer Umfragen würde er heute landesweit 48,4 Prozent der Stimmen holen, während Trump nur auf 42,9 Prozent käme. Auch in hart umkämpften "Swing States", deren Wähler das Votum letztlich entscheiden, liegt er vorn – in Florida und Wisconsin mit jeweils drei, in Pennsylvania mit sechs Prozentpunkten. Doch erstens sind Meinungsumfragen vom Mai im November nur Schall und Rauch. Und zweitens könnte sich Biden, der oft fahrig wirkt, sich verhaspelt, der Namen verwechselt und Anekdoten falsch wiedergibt, noch blamable Ausrutscher leisten.

Auch die Causa Tara Reade könnte ihm noch zu schaffen machen. Die in Kalifornien lebende Frau wirft dem damaligen Senator vor, sie 1993 auf den Korridoren des Kapitols sexuell bedrängt, ihr unter den Rock gegriffen zu haben. Der Beschuldigte bestreitet es kategorisch, Reade bleibt ebenso kategorisch bei ihrer Darstellung. Biden sollte seine Bewerbung zurückziehen, schon deshalb, weil er die Charakterfrage in den Mittelpunkt gestellt habe, erwiderte sie auf sein Dementi.

Der Ausgang des Votums, darin sind sich die Kampagnenstrategen einig, wird wohl davon abhängen, welches Narrativ sich durchsetzt. Gelingt es Biden, die Wahl zu einem Referendum über Trump zu machen, über schlechtes Krisenmanagement, mangelndes Mitgefühl, eine Geringschätzung der Wissenschaft, dürfte er der nächste Präsident sein. Hat dagegen Trump Erfolg mit dem Versuch, den Konkurrenten als senilen Greis hinzustellen, obendrein als weltpolitischen Träumer, als einen Freund Chinas, der sich Kritik an Peking verkneift, weil er etwas zu verbergen hat, könnte er es sein, der am Ende triumphiert. (Frank Herrmann, 27.5.2020)