Der Schriftsteller Daniel Wisser (49) verfasst unter anderem Prosa, Gedichte und Songtexte. 2003 erscheint sein Debütroman "Dopplergasse acht". 2018 erhält er für "Königin der Berge" den Österreichischen Buchpreis.

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"Gehen wir schwimmen?" Das hatte Elias gerade noch gefehlt. Warum hatte er zugestimmt, in dieses Naturbad zu gehen? Jelena ging voran. Der Fluss war durch eine kleine Insel geteilt, sodass man in einem Seitenarm schwamm, in dem es fast keine Strömung gab.

Nun gut, sagte Elias zu sich selbst, ich habe mich breitschlagen lassen, hinauszugehen, mit Sonnencreme eingeschmiert, ich liege neben einer laut schreienden, andauernd telefonierenden und Bier trinkenden polnischen Familie, die viel zu wenig Abstand hält, auf der Wiese, also kann ich auch schwimmen gehen. Das Wasser war seicht. Jelena reichte es bis zur Hüfte, doch sie watete durch den Schlamm, während Elias neben ihr schwamm. Er hasste es, aufzutreten. Würmer, Egel, Quallen und Algen, dachte Elias. Von Bakterien und Viren ganz zu schweigen. Irgendwann schwamm auch Jelena. Sie schwamm besser als Elias. Elias konnte nicht richtig schwimmen, er ging zwar nicht unter, aber sein Bewegungsablauf beim Brustschwimmen war falsch. Er hatte Mühe, mit Jelena mitzuhalten. Immer wieder wickelte sich eine Schlingpflanze um sein Bein, und er hatte Mühe, sich wieder davon zu befreien. Außerdem stach diese Pflanze, nur ganz leicht, aber sie stach. Elias war froh, als er wieder aus dem Wasser stieg.

Vier Monate lang hatte Elias das Haus nur verlassen, um zum Supermarkt zu gehen und den Müll zu entsorgen. Zuerst hatte er mit Jelena Nachrichten ausgetauscht. Sie hatte ihre Profilbilder für ihn freigeschaltet und er seine. Dann hatten sie gechattet. Aber irgendwann müsse man sich in der realen Welt sehen, hatte Jelena gemeint. Jetzt hatte er sie vor sich.

Jelena zeigte ihm die ledernen Flipflops, die sie aus Vietnam mitgebracht hatte. Ein Schuster hatte sie dort für sie maßangefertigt, das Ganze habe nur einen lächerlichen Betrag gekostet, und es seien die besten Flipflops, die sie je gehabt hätte. Elias fragte, warum sie nicht gleich mehrere Paare habe machen lassen, wenn die Flipflops so gut seien. "Daran habe ich leider nicht gedacht", sagte Jelena. "Hast du dich schon einmal getroffen mit jemand vom Dating-Portal?", fragte Elias. Jelena störte die Frage nicht: "Zweimal." "Ich noch nie", sagte Elias.

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In dem kleinen Eissalon wählte er Pistazie und Erdbeer, sie Topfen. Die Eisverkäuferin fragte nach der Sorte für die zweite Kugel. "Auch Topfen", sagte Jelena. Während er eine Tüte nahm, wollte sie einen Becher. "Sonst tropft mir das Eis auf die Flipflops", sagte Jelena. Tatsächlich war Elias viel schneller mit dem Eis fertig. Sie saßen auf einer Bank unter einem Baum. Immer wieder überlegte Elias, ob er seine Hand auf ihren Oberschenkel legen sollte. Oder vielleicht um die Schulter? Durfte man einander schon berühren? Jelena seufzte: "Ich liebe das Topfeneis hier."

Nachmittags wurde die Stelle, an der sie im Gras lagen, langsam schattig. Jelena wollte einige Meter weiter, um wieder in der Sonne sitzen zu können. Also nahmen sie alle ihre Sachen, legten sie auf die Decke und gingen, die Decke hinter sich herziehend, zu ihrem neuen Liegeplatz. Es war schon Abend, die Sonne stand tief. Der Plan, zu einem Heurigen zu gehen, wurde diskutiert. Elias bestimmte einen Heurigen, und Jelena war einverstanden. Elias hatte gehofft, Jelena auf dem neuen Liegeplatz ein wenig näherkommen zu können, um ihre Hand zu ergreifen oder ihr durch das Haar streichen zu können. Aber der Abstand zwischen beiden war zu groß.

"Bestimmt haben wir einen gemeinsamen Bekannten", sagte Jelena. "Oder es gibt jemand, den wir beide über einen Bekannten kennen und wir hätten uns sowieso einmal kennengelernt." Sie nahm ein Kopftuch zur Hand und verknotete es hinter dem Nacken. "Möglich", sagte Elias. "Angeblich kennt man ja über sechs Stationen jeden anderen Menschen auf der Welt." "Über sieben Ecken hat man bei uns immer gesagt", sagte Jelena und setzte sich auf. "Sollen wir unsere Telefonnummern austauschen?" Elias nickte: "Okay. Aber ich telefoniere nicht gerne." Jelena zog das Mobiltelefon aus der Tasche: "Das weiß ich doch schon von deinem Profil." Elias lächelte. "Natürlich", sagte er. "Ich telefoniere auch nicht gern", sagte Jelena. "Schon vergessen? Wir haben viele Gemeinsamkeiten. Warum hätten wir sonst 105 Matching-Points?"

Elias diktierte Jelena seine Telefonnummer, sie schickte ein SMS, und Elias speicherte ihre Nummer in seinen Kontakten. Noch immer kannte er ihren vollen Namen nicht. In das Feld für den Nachnamen tippte er Topfeneis. Dann schickte er ein SMS zurück.

Es dauerte eine Weile, bis sie beim Heurigen einen Platz bekamen. Jelena saß Elias gegenüber. Lieber wäre es ihm gewesen, sie wäre an der Breitseite des Tisches gesessen und er an der Längsseite, sodass er nach ihrem Knie hätte greifen können. Hinter Elias war es laut, der Kellner brachte Tabletts voller Karaffen und Schnapsgläser. Es dauerte lange, bis er die beiden bediente. Sie bestellten einen halben Liter Schankwein und eine Siphonflasche Soda und holten dann Essen vom Buffet.

Sie sprachen über Beethovens Klavierkonzerte. Elias war müde. Die Welt hier draußen war ihm zu anstrengend. Einmal stellte Jelena ihm eine Frage, er verstand aber nicht, dass es eine Frage war. Als sie fertiggegessen hatten, schlug er vor, noch ein Glas Sauvignon Blanc zu bestellen. Der Kellner kassierte gerade auf dem Tisch hinter Elias, schließlich kam er, um die Bestellung aufzunehmen.

Jelena prostete Elias zu: "Danke, das war ein schöner Ausflug." Sie tranken. "Ein wunderbarer Tag", sagte Elias. Der Kellner kam wieder mit einem Tablett mit fünf Schnapsgläsern. Er brachte sie zu einem Tisch, an dem vier Personen saßen. Alle prosteten einander zu, auch der Kellner war auf einen Schnaps eingeladen worden und leerte das Glas mit einem Zug. "Und niemand hier hat ihn erkannt", rief eine der Damen am Tisch. Man hörte, dass sie bereits betrunken war. "Er sitzt hier einfach, und keiner bemerkt ihn", rief die Dame noch lauter. Sie wiederholte diese Sätze einige Male. Als der Kellner wieder vorbeikam, fragte Jelena: "Herr Ober, von wem ist die Rede?" Der Kellner zeigte auf den Tisch hinter Elias, der nun leer war: "Christoph Waltz ist vorhin an diesem Tisch gesessen."

Jelena war außer sich. "Christoph Waltz! Mein Gott! Er ist die ganze Zeit hier gesessen", sagte Jelena, "und ich habe ihn nicht gesehen." Sie schüttelte den Kopf. "Ich habe ihn auch nicht gesehen", sagte Elias. "Du bist mit dem Rücken zu ihm gesessen", sagte Jelena, "aber ich … er muss praktisch vor meinen Augen gewesen sein."

Der Kellner brachte nochmals eine Runde Schnaps an den Tisch nebenan. Wieder trank er mit. Die betrunkene Dame redete immer lauter. "Noch ein Runde Schnaps?", fragte der Kellner. "Nein, nein, jetzt ist Schluss", lallte die Dame, "ich muss morgen arbeiten." Der Kellner nahm das Tablett und ging davon. Dann drehte er sich nochmals zum Tisch um: "Ich muss jetzt arbeiten. Stellen Sie sich das vor!"

Jelena und Elias waren mit den Rädern noch ein Stück gemeinsam gefahren. Als sich ihre Wege trennten, verabschiedeten sie sich voneinander. Jelena lachte: "Christoph Waltz ist am Tisch nebenan gesessen. Und wir haben ihn nicht gesehen!" Es gab ein Küsschen links und rechts auf die Wange.

Zehn Minuten später war Elias zu Hause. Er saß auf der Terrasse. Für die Nacht war der Meteorschwarm der Perseiden angesagt. Elias konnte nichts sehen. Mit Mühe zwei, drei Sterne. Aber keine Sternschnuppe. Jelena schickte ein SMS: "Zu meinem Entsetzen hab ich festgestellt, dass ich meine Flipflops im Bad vergessen haben muss! Das ist jetzt wirklich dramatisch!!!! Aber ich kann mich auch nicht erinnern, dass ich sie eingepackt habe." Elias bot an, am nächsten Morgen zum Bad zu fahren und sie zu suchen, aber Jelena lehnte ab, bedankte sich für den Ausflug und wünschte ihm eine gute Nacht. Als wir den Liegeplatz gewechselt haben, dachte Elias, ist es passiert. Da hat sie ihre Flipflops vergessen.

Elias war eingeschlafen, ohne eine einzige Sternschnuppe gesehen zu haben. Er wachte früh auf und war froh, diesen Tag wieder in der Wohnung verbringen zu können. Immer wieder blickte er auf das Mobiltelefon, loggte sich wieder im Dating-Portal ein. Vielleicht hatte Jelena dort eine Nachricht hinterlassen? Erst abends schrieb sie, sie habe im Bad angerufen, es seien aber keine Flipflops abgegeben worden. Dennoch werde sie abends zum Bad fahren und die Liegewiese absuchen. Elias bot nochmals an hinzufahren. Jelena schrieb, sie könne das nicht annehmen. Und dann kam eine weitere Nachricht: "Hach, wie blöd das doch alles ist!!!" (Daniel Wisser, RONDO Exklusiv, 15.8.2020)